»Alle guten Vorsätze haben etwas Verhängnisvolles«, schrieb einst Oscar Wilde, »sie werden beständig zu früh gefasst.« Dieser Aphorismus trifft auf ein Jahr, das kein Ende findet, nicht zu.
Die Pandemie, die sich 2020 über die ganze Welt ausbreitete, ist immer noch da, beherrscht unser Denken und Fühlen. Die gute Nachricht ist: Es ist darum 2021 nie zu früh, sich etwas vorzunehmen. Wir leben in einer Art permanentem Jahreswechsel, nur ohne Party und Böllerei, in einem Zustand, in dem das Alte noch nicht vorbei ist und das Neue noch nicht begonnen hat. Dinner for one in Endlosschleife.
Alle Vorsätze können also getroffen werden, solange die Ausbreitung des Virus nicht unter Kontrolle ist, und dann beginnt das neue Jahr, dann können wir, so heißt es jedenfalls immer wieder, »endlich zur Normalität zurückkehren«. Diese Redewendung impliziert zweierlei: dass wir trotz der Verheerungen, die COVID-19 mit zu bringt, zu einem pre-pandemischen Zustand zurückkehren können, als wäre nichts gewesen, und: dass das erstrebenswert sei. Dabei war die Welt schon vorher aus den Fugen geraten, schon vorher hatte sich etwas ausgebreitet, das nur schwer wieder unter Kontrolle zu bringen ist: der Mensch.
Kurz vorm Jahreswechsel 2019/20 lud mein Vater meine Mutter und mich in ein Café ein. Es handelt sich um ein Café, in dem er sich seit ein paar Jahren mit seinen Freunden trifft, das Die-Welt gehört-dem-der-sie-genießt-Café. Das Café hat keinen Namen, es befindet sich in einem Supermarkt und gehört zu einer Bäckerei, aber dieser Satz steht dort an der Wand: »Die Welt gehört dem, der sie genießt.« Es war der letzte Samstag des Jahres und der erste Tag vor Silvester, an dem Knaller verkauft werden durften. Ich hielt es für puren Wahnsinn, an einem Tag wie diesem dorthin zu fahren, aber mein Vater hatte von seinen Freunden einen Gutschein zu Weihnachten bekommen, er wollte uns zu Tee und Kuchen einladen, uns etwas Gutes tun.
Wie sich herausstellte, war es der pure Wahnsinn: der Parkplatz stand voller Autos, in den Gängen drängten sich die Leute mit ihren überquellenden Einkaufswagen, Männer posierten mit »Power System Profi Batterien« in Händen vor ihren fotografierenden Frauen wie Jäger, die damit prahlten, ein besonders seltenes und vom Aussterben bedrohtes Tier erlegt zu haben. All das erschien mir Ausdruck von totaler Dekadenz zu sein, ein Imperium kurz vor dem Untergang.
Für 2020 nahm ich mir vor, bei jedem Besuch mit meinem Vater in dieses Café zu fahren, uns dort mit seinen Freunden zu treffen und diesen Wahnsinn abzubilden, den sie als Normalität bezeichnen: in diesem Supermarkt zu sitzen und Tee zu trinken. Ich wollte ein Journal der Krise schreiben, mit meinem Vater und seinen Freunden über die Entbehrungen sprechen, die sie als Kriegsgeneration noch erlebt hatten, und über den Wohlstand, den wir im Westen erreicht hatten – und der jetzt die Welt zerstörte.
Es sollte nur wenige Gelegenheiten geben, meinen Vorsatz in die Tat umzusetzen. »So etwas haben wir noch nicht erlebt«, sagte mein Vater während des ersten Lockdowns. »Selbst im Krieg nicht.« Im Sommer, als wir nach Monaten wieder im Die-Welt-gehört-dem-der-sie-genießt-Café zusammenkamen, hofften alle, bald auf Masken, Desinfektionsmittel und Kontaktdatenhinterlegung verzichten zu können. Niemand rechnete mit einem zweiten Lockdown. Und ich sah uns schon am Ende des Jahres wieder dort sitzen, in dem gleichen Wahnsinn wie im Jahr zuvor.
Als es dann soweit war, fuhr ich allein ins Café. Der Raum war mit rot-weißem Plastikband abgesperrt. Die Stühle standen auf den Tischen. Ein Schild wies darauf hin, dass das Geschäft »aufgrund der aktuellen Situation« geschlossen sei.
Das ist bald einen Monat her.
Die aktuelle Situation hält an.
Jeden Morgen treffe ich den gleichen Vorsatz.
Und jeden Morgen scheitere ich an dessen Umsetzung: an dem Versuch, die Welt zu genießen und gleichzeitig ihren Verfall zu dokumentieren.
Und darum treffe ich jetzt einen neuen: das auszuhalten und weiterzumachen bis zum großen Finale.