Ralph Tharayil ist Schriftsteller, Musiker, Theaterschaffender. Gemeinsam mit anderen Künstler*innen entwickelt er für unser Festival Keine Sorge/Don’t Care derzeit Care-Pakete, die wir im Sommer an Einrichtungen der Fürsorge schicken wollen – mit ganz unterschiedlichen Inhalten und in verschiedenen Formen: Bild-, Ton- oder Spielmaterial für all diejenigen, die dort (gerade) leben. Im Rahmen von Free Care nun eine Serie mit kleinen Audiopaketen. Heute folgt Teil 2. Viel Freude!
Hallo und willkommen bei Seele – Seele live, schön, dass Sie dabei sind bei dieser Sondersendung in der Sie uns von Ihren Sorgen, Wünschen oder Ängsten erzählen...
...aber erst mal eine Frage vorweg:
Welche Geschichte möchten Sie heute erzählen?
Die Leitungen sind ab jetzt für Sie geöffnet – es gibt nichts, was nicht gewesen sein wird: Das ist Seele live!
Jetzt sehe ich hier auch schon ein rotes Lämpchen bei mir im Studio, das bedeutet, dass jemand in der Leitung ist und ich gehe ran, ja hallo, wer ist denn da?
Meine Hände lösen sich auf. Hinter dem Wasser höre ich sie miteinander sprechen, Bläschen in den Mundwinkeln, Seife auf der Zunge. Die Haut blättert ab, sie war einmal braun, jetzt eher teigiggelb vom vielen Waschen, 60 mal am Tag, die Risse tiefer, ich kann nicht aufhören, kann mir nicht länger auf die Finger schauen, keine Nägel kauen. Verstehen Sie – meine Nervosität bangt um ihre Existenz.
Willkommen bei Seele live – die Leitungen sind immer noch offen für Sie, um von Ihren Sorgen oder Wünschen zu erzählen, es bleibt spannend!
Mein Vater hat ein Reh überfahren. Bevor unsere Windschutzscheibe dem Tier eine Ohrfeige verpasste, leuchteten seine Augen noch kurz auf. Wir hievten es von der Straße in den Wagen, die Pfoten hingen aus dem Kofferraum. Meine Hände und meine Jacke waren voller Blut, das genau so gescheckt war, wie das Fell, hast du schon mal ein Rehhirn gesehen?
Es ist gar nicht so süß wie das Reh selbst.
Ja hallo, willkommen bei Seele live – ist da jemand in der Leitung mit einer echten Geschichte?
Ich muss zehn gewesen sein. Der Sommer hing mit seinen Wolken über dem Dorf und während die meisten Kinder draußen spielten, stand ich in meinem Zimmer vor dem Spiegel und zog meine Unterhose aus. Ich legte sie mir auf’s Gesicht und atmete tief ein. Plötzlich stand meine Mutter hinter mir. Damals hatte ich keine Antwort parat. Wenn man mich heute fragen würde, würde ich sagen, dass ich immer noch versuche meiner Realität im Schritttempo zu entfliehen.
Sie sind live bei Seele live – wir freuen uns noch immer auf Ihre Geschichten, die vielleicht sogar mit einem der folgenden Sätze endet:
Eine Hand wäscht die andere Schwamm drüber
Wir sind im Krieg
Wir sind alle gleich
Das darf man ja wohl noch sagen dürfen Das ist hier eine Demokratie
Die Zeit heilt alle Wunden
Nutzen Sie ihre Chance, die Leitungen sind nur noch einen kurzen Moment offen für Ihre Geschichten...auch die, die Sie sich selbst erzählen:
Manchmal wünsche ich mir, es wäre dunkler. Nicht allgemein, aber hier im Studio. Wenn es dunkler wäre und das rote Lämpchen weg, dann könnte ich etwas Kitschiges sagen wie: Wenn es dunkler wäre, dann wären wir zu zweit: die Darkness und ich.
Manchmal, wenn ich hier so sitze, denke ich, dass es ganz schön einsam sein kann auf einer Welt. Dann denke an Avocadotoast und daran, ob meine beiden Windhunde zu meiner Beerdigung kommen dürfen. Wenn ich auf dem Sofa liege, liegen sie mir auf dem Herzen. In solchen Momenten muss ich sie dann wegschubsen, damit ich weiteratmen kann.
Manchmal, wenn ein Baum keine Blätter hat, weiß ich, dass er in diesem Moment umso intensiver versucht zu leben und dann muss ich wegschauen, damit ich nicht anfange zu heulen.
Manchmal, wenn ein kleines Kind mich anlächelt, meine ich zu verstehen, dass das Leben ein Zirkelschluss und keine Tangente ist. Dass alles von sich selbst unberührt bleiben könnte – die Umarmungen, die Gier und selbst die großen Katastrophen der letzten Jahrhunderte.
Manchmal, wenn ich spüre, dass beim Joggen das Bein gleich zerrt, da lass ich mich einfach fallen – ins dünne Moos, das wie eine Tonsur um den See läuft und schaue tief ins Grün hinein, bis meine Augen, mein Hirn und mein Bein sich komplett entspannen.
Bis sich alles komplett entspannt, sind wir eingeschlafen im dünnen Moos.
Grafik/Design: Christian Ruess
Keine Sorge/Don’t Care ist ein Projekt von Burg Hülshoff – Center for Literature, gefördert durch die Kunststiftung NRW und das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW im Programm »Regionale Kulturpolitik«.