Free Care

#10: A WIE ANAMNESE

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Ralph Tharayil ist Schriftsteller, Musiker, Theaterschaffender. Gemeinsam mit anderen Künstler*innen entwickelt er für unser Festival Keine Sorge/Don’t Care derzeit Care-Pakete, die wir im Sommer an Einrichtungen der Fürsorge schicken wollen – mit ganz unterschiedlichen Inhalten und in verschiedenen Formen: Bild-, Ton- oder Spielmaterial für all diejenigen, die dort (gerade) leben. Im Rahmen von Free Care nun eine Serie mit kleinen Audiopaketen. Viel Freude!

Was sind Sie von Beruf?
Gegenfrage:
Darf ich an dieser Stelle schon lügen?

Sie dürfen nie lügen bei A wie Anamnese, sonst korrumpieren Sie B wie Befund. Also nochmal: Beruf
Berufung Krankenschwester.

Wo haben Sie Schmerzen und was für Schmerzen?
(klopfend / pochend / ziehend / drückend / stechend oder brennend)?
Beileibe stechend, klopfend, drückend.

Lügen Sie an dieser Stelle?
Um lügen zu können, müsste ich mich an alles erinnern, auch an die Lücken. Aber die Lücken, beginnen auf Latein:

A wie Ausgrenzung
B wie Beschimpfung
C wie Charity

Religionszugehörigkeit?
Nur einmal geboren, in den Fünfzigern oder Sechzigern des letzten Jahrhunderts, anno dominus, in einem Haus, in Südindien, damals. Und heute sagt man mir Dinge wie: Wo bleiben die Tage oder die Zeit ist ein Band oder alles ist relativ, dabei kennt die Zeit nur eine Richtung: GO WEST.

Familienstand?
Bin nicht allein, trage die Topografie mit mir. Die Schweizer Alpen, die Skyline Manhattans oder den Ärmelkanal. Dann erstes Mal mit fremdem Mann, dann Windeln, Rotze, Scheiße, Schulranzen, Weiterbildung, Sport, Hochzeiten, Rechnungen, höhere Ausbildung, Korrespondenzen, Enkelkinder, Putzmittel, Kurkuma – alles sterilisiert.

Wissen Sie von Herzerkrankungen?
Nein.

Nein?
Nein, keine Herzerkrankungen:
Außer: A wie du bist der Apfel meines Auges.
Außer: Geh aber geh mit Gott.
Außer: Bleib gesund und vergiss deine Mutter nicht.

Grillen/
zirpen
Grillenzirpen

Leiden Sie an Allergien?
Ja, ich leide an Allegorien wie Lean Hospital: die magere, entschlackte Empathie, bemessen auf Checklisten, Zeitprotokollen und Kommunikationscodes:

Wie viele Nadeln können Sie setzen pro Minute, Schwester?
Wie oft verfehlen Sie dabei die Vene, Schwester?
Schreien Patienten in Ihrer Anwesenheit, Schwester?

Wissen Sie, auch Fürsorge braucht Leistung.

Gibt es Erbkrankheiten in Ihrer Familie?
Ja
Integration
Exzessive Demut
Christus

Haben Sie Süchte?
Zigaretten, Alkohol, Anerkennung?
Die Kinder und Großkinder sind gesund. Mein Mann ist gesund. Ich bin gesund. Die Distanz ist überbrückbar und der Ozean nur das Rinnsal einer logischen Suchbewegung. Denken Sie ich bin krank?

Nein, Sie funktionieren.
Aber leiden Sie an Muskelschwäche?
Nie blaugemacht, auch wenn die Kinder krank waren, nie eine Glocke ignoriert, auch wenn die Patientin losen Stuhlgang hatte, Adipositas hatte, MS hatte und nur noch ihre Augen bewegen konnte. Gedreht, gewaschen, den Rücken massiert, die Füße massiert, die Bettwäsche gewechselt und unter dem Kopfkissen ein bisschen Würde gefunden.

Was sind Ihre Hobbies?
Wir sind eins geworden mit der Form, die von Außen in uns geflossen ist, und doch bleibt diese Lücke des Erinnerns an unser Fremdsein. Wo finden wir unser Zuhause, wenn Geborgenheit kein Kriterium mehr ist?

Wir haben nach dem Barmherzigkeitsprinzip und dem der Nächstenliebe gehandelt klar, wir haben uns in Distanz gewahrt klar, wir haben uns gekümmert, indem wir uns erinnerten, dass sich auch um uns gekümmert wurde.

Wie ist ihr soziales Umfeld?
Wir haben uns in Geduld geübt in der Psychiatrie, der Orthopädie und der Geriatrie und wir haben uns Ausfälle über unser Aussehen, unsere Aussprache und unsere Haare angehört,

whites come first, that’s just how it is – als Hilfskraft, lieben sie dich alle, aber kaum willst du mehr – they will never acknowledge you.

Nehmen Sie regelmäßig Medikamente zu sich?
Die Bildung kannte kein Ende, mit jedem Diplom gelernt die Sprache des Körpers noch besser zu lesen, wann man Danke und wann man Adieu sagt. Thank you and goodbye, and a very Merry Christmas to you too gesagt und unseren Aufenthaltstitel immer wieder neu definiert.

Nach unserem Verlangen verlangt und im Rückenmark eine Prise Restmut gefunden: Wir haben keine Angst. Wir werden nicht wiedergeboren werden: im Kantonsspital Liestal, im Good Samaritan Hospital in New York, im Kings College Hospital in London.

Leiden Sie an Empfindungsstörungen?
Wer A sagt, muss auch Weh sagen, pflegte unser Oberarzt zu predigen.

A wie Anamnese.
Z wie zurück.


Grafik/Design: Hojin Kang

Keine Sorge/Don’t Care ist ein Projekt von Burg Hülshoff – Center for Literature, gefördert durch die Kunststiftung NRW und das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW im Programm »Regionale Kulturpolitik«.