Digitaler Ausstellungskatalog

Das Biedermeier-Phantasma | Deep Fake

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Manuel Gogos

Reise um den Tag in 80 Welten

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Guck-gucks-Uhr
mit geweihtem Gewehr

Das Gewohnheitstier
Wollen wir den Menschen studieren, beobachten wir seine Gesten, fragen wir nach seinen Gewohnheiten. Die Beziehung des Menschen zu seinen Gewohnheiten ist innig. Er ist ein Gewohnheitstier. Er hat sich auf den elementaren Bereich des Alltäglichen durch unendliche Wiederholung tief eingelassen. Er ist von seiner Umwelt durchwachsen und seine Umwelt durchwachsen von ihm. Gewohnheit als Effekt der Wiedererkennung ist ein vitales Vermögen. Sie zeugt von der Teilhabe an Mustern. Die Gewöhnung gibt den Zusammenhang, sie schafft aus den Gegenständen, die in der Umwelt lagern, einen Orientierungsraum. Sie schlägt sich nieder im Erfahrungshorizont. Einem Blinden gleich, der lernt in der vertrauten Umgebung ohne Stock zu gehen – und ohne Zögern; Sicherheit, Schnelligkeit, Klarheit: Das ist die Macht der Gewohnheit.

Die Verfallsform der Gewohnheit ist die Automatik – d.h. jene Selbstgerechtigkeit die aus der Engstirnigkeit resultiert zu meinen, Dinge könnten nur auf eine Weise betrachtet und erledigt werden. Wo der Sesshafte besitzt, läuft sein Leben Gefahr, im Eigentum auf der Stelle zu treten. Seine (liebe) Gewohnheit wird ihm zur „zweiten Natur“. Ohne es zu wissen, bewusstlos, bewohnt er seine Welt.

Fantasmata des Neobiedermeiers, oder: Wohnen. Dämmern. Lügen
Das Biedermeier des 19. Jahrhunderts als Rückzug in die Häuslichkeit war eine Reaktion auf die Zerfallserscheinungen am Ende der Napoleonischen Ära. Als Folge des Untergangs einer Welt da draußen zog man sich auf sich selbst zurück, in die eigenen vier Wände, das Familienleben intensivierte sich, und die Musikensembles der Zeit verkleinerten sich, von der Sinfonie zur Kammermusik. Auch heute erschüttern Globalisierung, Kriege und Flüchtlingsmigrationen prästabile nationale Seelenlandschaften. Die durch ein Krisengefühl in Permanenz genährte Furcht vor der Geschwindigkeit des Lebens (wir werden überrannt), der Ohnmacht gegenüber globalen Dynamiken (wir werden überlaufen) und vor dem Verlust unserer Privatsphäre aufgrund der Digitalisierung der Welt (wir werden beobachtet) führt auch heute wieder zu einer Flucht ins Eingeweckte, -gelegte und -gemachte. Einer Weltflucht in die unerträgliche Leichtigkeit des in den eigenen Vier-Wänden-Seins. Zu-Hause-sein, als Da-sein, wo die Erdbeerstückchen im Marmeladenglas schweben.

Heute darf die Eichenschrankwand wieder ins Wohnzimmer einziehen. Als Trotzburg, Schranke und Beschränkung. Da sitzen die Einwohner nun mit ihren Gemächten in ihren Gemächern, in ihrer Wahn- und Wagenburg, und verschreiben sich, verschwören sich dem Eigenen. Die Welt da draußen steht in Flammen, und die Menschen spinnen sich ein in ihren Kokon.

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»Seance« kommt von »Sitzung« – Hier im Bild eine Sitzung des Kuckucks-Klans auf der Burg Hülshoff. Sie wurde mit den Mitteln der Aura-Photographie aufgenommen.

Wenn den Alteingesessenen Unbekanntes begegnet, dann auf Kosten der Gemütlichkeit. Das nennen sie dann Hausfriedensbruch. Plötzlich wird Welt als Widerstand erlebt, als etwas, das gegen den Strich geht. Die im Vorderhaus fühlen ihre Kreise gestört von den Gotteshäusern im Hinterhof, und sie fühlen sich beobachtet von denen, die nun im Hinterhaus wohnen. Was sich von selbst verstanden hatte, was so schön eingespielt war, das harkt nun. Und jene werden Wind bekommen von unseren Sitten und Gebräuchen, unseren Eigenarten und Idiosynkrasien. Die Zugewanderten, die Landvermesser werden Zeugen, wann wir nach Hause kommen, ob Alkohol im Spiel war. Da ist es schon gut, wenn man sie für alles Unheilvolle und Unheimliche bei uns zu Hause verantwortlich machen kann.

Aber es ist wie bei der berühmten Merkel-Raute, die längste Zeit als fürsorgliche Umzäunung angesehen. Und nun, mit durchlässig gemachten Grenzen die Einheimischen sich fragen. Sind die Anderen vielleicht liebenswürdiger als wir selbst?

Die Befindlichkeiten in der Migration lassen sich als prekärer Zustand des »Außergewöhnlichen« beschreiben. Der Aufgebrochene sucht leidenschaftlich nach einer Verarbeitungsstruktur für die Signale der Welt. Wo es gar keine Gewohnheit gibt, wird das ganze Leben zur Prüfung, zum Ausnahmezustand.

Der Migrant wird heute wieder immer nur als Hilfsarbeiter taxiert, als ewiger Zauberlehrling des ersten, zweiten, dritten deutschen Wirtschaftswunders. Der Eingeborene aber bleibt der Zeremonienmeister in Deutschland, Österreich, der Schweiz, der Spezialist für Leitkultur, der die Wirklichkeit einrichtet. Der Neuzugang indes im Fadenkreuz der Integration kennt keinen Autopiloten, er schaltet von Hand. Er muss flexibel auf das unwegsame Gelände reagieren, die Schlaglöcher, das Mienenfeld. Ausgesetzt den Blicken, ausgeliefert den Interessen. Das ist dem ewigen Einwanderer ein Hemmschuh: Wer bei jedem Schritt über die Bewegung der Extremitäten nachdenkt, geht nicht, – stolpert nur. Was spielt sich da ab auf Burg Hülshoff – als Interpretation der Festung Europa – auf der Grenze, die Vergangenheit (Herkünfte) in die Zukunft (Ankünfte) schmuggeln will? Ein Tanz, oder doch ein Spießrutenlauf, eine Amputation oder eine Entbindung?

Ist heimatliche Neo-Biedermeierei schlicht eine Konsequenz neuer Versessenheit aufs Sesshafte? Um sich unter gesteigerten Fliehkräften und Exzentrizität freiwillig selbst zu verhaften? Wie wären aktuelle Konservierungs-Tendenzen und eingefleischte Denkgewohnheiten – Pökelfleisch des Denkens in (kleinen) Dosen – wie wäre altneues Spießertum zu entwurmen und eingeschränkte Horizonte in der Besenkammer zu erweitern? Wie könnte er aussehen, der Tapetenwechsel in einer Welt der in Frage gestellten Muster?

Auf der Burg Hülshoff wird jetzt seit Neustem mit dem Stimmhämmerchen an die heile Welt geklopft. Du betrittst den Raum. Ziehst deinen Mantel aus, schaust dich um: Ein Tisch, Stühle, Bücher. Dein Blick gleitet über die Tapeten.
Du betrachtest die floralen Muster, beginnst darin zu lesen. Beginnst darin zu leben. Die befragst die Dinge, die den Raum bevölkern, die stummen Zeugen, die Gebrauchspuren tragen, aber sich noch weigern, dir ihre Geheimnisse zu verraten.

Das Murmeln der Dinge
Es ist wie im berühmten Ballett Der Nussknacker, das Tschaikowski auf der Grundlage einer Erzählung von E. T. A. Hoffmann komponierte. Niemand hat je bestritten, dass die Dinge da sind. Aber sie vegetieren an den Rändern, entgehen häufig der Aufmerksamkeit. Die Präsenz eines vorhandenen Objekts ist unbestreitbar, aber es ist stumm. »Wie niedere Bedienstete«, sagt der französische Soziologe Bruno Latour, »leben die Dinge an den Rändern unserer Welt. Als hinge ein Fluch über ihnen, verbleiben die Dinge schlafend – wie die Dienerschaft eines verwunschenen Schlosses. Doch sobald Burgbewohner und Burgbesucher sie gemeinsam vom Bann erlöst, bloß ein Ding unter Dingen zu sein – und nicht das Ding an sich – beginnen sie sich zu regen, zu recken und zu murmeln. Sie beginnen, aus dem Nähkästchen zu plaudern – diese geschwätzigen Kleinodien!«

Umringt von Pferdebildern und dekorativen Kommoden und Sekretären, Nähtischchen und Schlittenbettchen flüstern Autorinnen und Inselforscherinnen, Wohn- und Gewohnheitsforscher ihrem Publikum etwas vom Zeitgeist des Neo-Biedermeier zu. Als würden nicht auch sie das mögen: Landlust und Geborgenheit. Und ist nicht auch die schreibende Zunft beheimatet im stillen Kämmerlein? Sind nicht auch Interior Designer ganz auf Innereien, aufs Eingemachte erpicht?

Zimmerreise als Ausweg aus der Auswegslosigkeit
1794 machte der französische Autor Xavier de Maistre mit seinem Buch Reise um mein Zimmer als erster die Dielenritze zum Breitengrad. Wie Längen- und Breitengrade durchlaufen die Dielen da das Zimmer. Der Morgenrock wird dem Zimmerreisenden zum magischen Reisegewand. »Geistiges Lustwandeln im Innern des eigenen Interieurs« – so schreitest auch du im Zimmer umher. Gehst »von Entdeckung zu Entdeckung«, wie es bei de Maistre heißt.

Auch hinter jedem Biedermeierschrank der Burg Hülshoff, hinter jedem auf Konsolen ruhende Empire-Spiegel kann sich plötzlich der Sternenhimmel auftun. Können Bilder oder Bücher wispern. Wie Meeresrauschen, oder Dschungelstimmen. Oder ist es einfach das Murmeln der Dinge um dich rum? Dein Blick schweift durch den Raum, fliegt auf wie aufgepeitscht, wie aufgescheucht, als wär’s ein Vogel, der durch ein geschlossenes Fenster will. Und plötzlich ist es auch dir, als öffnete sich das Fenster, als wärst du im Freien, als erhöbe sich von irgendwo ein warmer, tropischer Wind. –

Auch Annette von Droste-Hülshoff ließ von ihrem Zimmer aus ihre großen Ideen segeln. In »typisch weiblicher« Handarbeit hat sich das Burgfräulein wenig ambitioniert gezeigt. Lieber hat sie geschrieben: mit Tinte, Licht, Bewegung. Die »Psaligraphie« ist das Kunsthandwerk des Scherenschnitts. In China erfunden, und auch im Deutschland der Goethezeit beliebt. Neben ihren Oden hat die Droste so auch Kleinodien gefertigt: Filigrane Ausschneidearbeiten aus Papier, hergestellt in einer »Faltschnitttechnik«, bei der ein mikroskopisch klein gefaltetes Blatt wird. Ihre starke Kurzsichtigkeit hat Annette besonders auf den Nahbereich der Dinge verwiesen. So drehte sie das Fernrohr gewissermaßen um. – Und plötzlich zeigte sich ihr, was bekannt erschien, in einem neuen, geheimnisvollen Licht...

Wir gehen heut auf Löwenjagd
Die »Indische Landschaft« gehört zu den Papierarbeiten dieser Art. Im Biedermeiersaal der Burg erscheint dies Bild einer ausgefalteten Landschaft als »Ding unter Dingen«. Ein vielschichtiges Objekt. Ein Artefakt, vielfach gefaltet wie ein japanischer Seidenkimono. Schwenkst Du den Blick von außen rein, da fasst ein Rahmen dieses Ding ganz ein. Mit einer Ornamentik, filigran wie Blattgold aufgetragen, – das könnte schon das Thema sein. Richtung Bildmitte zeigt sich das Bild-Ding von einem Palmenbaum beherrscht, dessen Palmwedel und -blätter hundertfach, ja tausendfach eingeschnitten sind und sich zum Betrachter - dir - hin krümmen. Wie Wimpern. Oder Tausendfühler, die ihre Schatten werfen auf hellbeigen Grund. Als würde Wind in ihre Spinnenbeinchen fahren! Unter der Palmkrone, in zentraler Position, ein Mann, hoch aufgereckt, fast wie zu Pferde. Mit einem Säbel, den er in Rage über seinem Turban schwingt. Geht der heut auf Löwenjagd? Doch nein, das scheint ein Überlebenskampf Mann gegen Mann! Denn einer unterliegt, mit dem Charakterkopf eines griechischen Gottes, und dem Körperpanzer des römischen Soldaten. Will er den denn nun vor laufender Kamera enthaupten?!

Und dann wieder ein wohlgemuter Elefant auf seinem Dschungeltrampelpfad, ein indischer, mit kleinen, spitzen Ohren. Und dann noch: Ein Vogel Strauß, oder ein Strauß von Vögeln? Ferner Gekrös aus Flora und Fauna, Blätterwerk und Klapperschlange. Und dann, ganz eigenartig, ein Gartenpförtchen, ein Jägerzaun!

»Pisang mit den breiten Blättern,

China-Rose, blutig roth,

Winden, die um Palmen klettern,

Kaktus, der mit Pfeilen droht;

Könnt ihr euch um mich vereinen,

Dann bin ich in Indiens Hainen!

Hat ein Zauber mich gebannt

In des Morgens Fabelland? –

Doch nicht lang soll Täuschung währen,

Regen läßt auf Glas sich hören,

Scharfer Wind fällt schneidend ein:

Ein Gewächshaus war mein Hain,

Und mein Indien liegt in Rüschhaus.«

In Entzauberung von 1834/35 spielt Annette von Droste-Hülshoff mit der Phantasie, sich in ferne Welten zu träumen. Doch folgt alles Reisen nicht dem einen Ziel, der Sehnsucht nach dem Paradies? »Die Hässlichkeit des Fremden stellt die Hübschheit und Schönheit der Heimat in Frage«, schreibt der Medientheoretiker und Exilant Vilém Flusser. Aber die Nomaden sagen: »Das Haus ist das Grab der Lebenden.« Wer sagt denn, daß das Allgäu nicht unmittelbar an den Himalaya grenzt? Können wir uns nicht zu Hause selbst erfahren? Wo Fernweh doch auch Heimweh ist...?

Am Ende ist es wie in dem Buch Wo die Wilden Kerle wohnen des US-amerikanischen Zeichners Maurice Sendak: Sei häuslich, aber lass Bäume dir im Zimmer wachsen. Halt die Füsse still, aber lass die Gedanken schweifen auf zur großen Fahrt. Nutze diesen Tag, denn er ist das Leben, das Leben allen Lebens. So Reise du um den Tag in 80 Welten.

Lizenz Bild Kuckucksuhr: Markus Fischer, Kuckucksuhr, www.schwarzwald.com, CC BY-SA 4.0
Lizenz Bild Trauzimmer: Annette von Droste zu Hülshoff-Stiftung/ Harald Humberg, Trauzimmer Burg Hülshoff, CCo 4.0
Lizenz Text: Michael Gogos, Reise um den Tag in 80 Welten, CC BY-SA 4.0

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© Christiane Frohmann



Annette von Droste-Hülshoff

Der Fundator

Im Westen schwimmt ein falber Strich,
Der Abendstern entzündet sich
Grad‘ über‘m Sankt Georg am Thore;
Schwer haucht der Dunst vom nahen Moore.
Schlaftrunkne Schwäne kreisen sacht
Um‘s Eiland, wo die graue Wacht
Sich hebt aus Wasserbins‘ und Rohre.

Auf ihrem Dach die Fledermaus,
Sie schaukelt sich, sie breitet aus
Den Rippenschirm des Schwingenflosses,
Und, mit dem Schwirren des Geschosses,
Entlang den Teich, hinauf, hinab,
Dann klammert sie am Fensterstab,
Und blinzt in das Gemach des Schlosses.

Ein weit Gelaß, im Sammetstaat!
Wo einst der mächtige Prälat
Des Hauses Chronik hat geschrieben.
Frisch ist der Baldachin geblieben,
Der güldne Tisch, an dem er saß,
Und seine Seelenmesse las
Man heut in der Kapelle drüben.

Heut sind es grade hundert Jahr,
Seit er gelegen auf der Bahr‘
Mit seinem Kreuz und Silberstabe.
Die ewge Lamp‘ an seinem Grabe
Hat heute hundert Jahr gebrannt.
In seinem Sessel an der Wand
Sitzt heut ein schlichter alter Knabe.

Des Hauses Diener, Sigismund,
Harrt hier der Herrschaft, Stund‘ auf Stund:
Schon kam die Nacht mit ihren Flören,
Oft glaubt die Kutsche er zu hören,
Ihr Quitschern in des Weges Kies,
Er richtet sich – doch nein – es blies
Der Abendwind nur durch die Föhren.

'S ist eine Dämmernacht, genau
Gemacht für Alp und weiße Frau.
Dem Junkerlein ward es zu lange,
Dort schläft es hinter‘m Damasthange.
Die Chronik hält der Alte noch,
Und blättert fort im Finstern, doch
Im Ohre summt es gleich Gesange:

»So hab‘ ich dieses Schloß erbaut,
Ihm mein Erworbnes anvertraut,
Zu des Geschlechtes Nutz und Walten;
Ein neuer Stamm sprießt aus dem alten,
Gott segne ihn! Gott mach‘ ihn groß! –«
Der Alte horcht, das Buch vom Schooß
Schiebt sacht er in der Lade Spalten:

Nein - durch das Fenster ein und aus
Zog schrillend nur die Fledermaus;
Nun schießt sie fort. – Der Alte lehnet
Am Simse. Wie der Teich sich dehnet
Um‘s Eiland, wo der Warte Rund
Sich tief schattirt im matten Grund.
Das Röhricht knirrt, die Unke stöhnet.

Dort, denkt der Greis, dort hat gewacht
Der alte Kirchenfürst, wenn Nacht
Sich auf den Weiher hat ergossen.
Dort hat den Reiher er geschossen,
Und zugeschaut des Schlosses Bau,
Sein weiß Habit, sein Auge grau,
Lugt‘ drüben an den Fenstersprossen.

Wie scheint der Mond so kümmerlich!
– Er birgt wohl hinter‘m Tanne sich –
Schaut nicht der Turm wie 'ne Laterne,
Verhauchend, dunstig, aus der Ferne!
Wie steigt der blaue Duft im Rohr
Und rollt sich am Gesims empor!
Wie seltsam blinken heut‘ die Sterne!

Doch ha! – er blinzt, er spannt das Aug‘,
Denn dicht und dichter schwillt der Rauch,
Als ob ein Docht sich langsam fache,
Entzündet sich im Thurmgemache
Wie Mondenschein ein graues Licht,
Und dennoch – dennoch – las er nicht,
Nicht Neumond heut im Almanache? –

Was ist das? deutlich, nur getrübt
Vom Dunst, der hin und wieder schiebt,
Ein Tisch, ein Licht, in Thurmes Mitten,
Und nun, – nun kömmt es hergeschritten,
Ganz wie ein Schatten an der Wand,
Es hebt den Arm, es regt die Hand, –
Nun ist es an den Tisch geglitten.

Und nieder sitzt es, langsam, steif,
Was in der Hand? – ein weißer Streif! –
Nun zieht es Etwas aus der Scheiden
Und fingert mit den Händen beiden,
Ein Ding, – ein Stäbchen ungefähr, –
Dran fährt es langsam hin und her,
Es scheint die Feder anzuschneiden.

Der Diener blinzt und blinzt hinaus:
Der Schemen schwankt und bleichet aus,
Noch sieht er es die Feder tunken,
Da drüber gleitet es wie Funken,
Und in demselbigen Moment
Ist Alles in das Element
Der spurlos finstern Nacht versunken.

Noch immer steht der Sigismund,
Noch starrt er nach der Warte Rund,
Ihn dünkt, des Weihers Flächen rauschen,
Weit beugt er über‘n Sims, zu lauschen;
Ein Ruder! – nein, die Schwäne ziehn!
Grad hört er längs dem Ufergrün
Sie sacht ihr tiefes Schnarchen tauschen.

Er schließt das Fenster. – »Licht, o Licht!« –
Doch mag das Junkerlein er nicht
So plötzlich aus dem Schlafe fassen,
Noch minder es im Saale lassen.
Sacht schiebt er sich dem Sessel ein,
Zieht sein korallnes Nösterlein,
– Was klingelt drüben an den Tassen? –

Nein - ein Fliege schnurrt im Glas!
Dem Alten wird die Stirne naß;
Die Möbeln stehn wie Todtenmaale,
Es regt und rüttelt sich im Saale,
Allmählig weicht die Thür zurück,
Und in demselben Augenblick
Schlägt an die Dogge im Portale.

Der Alte drückt sich dicht zu Hauf,
Er lauscht mit Doppelsinnen auf.
– Ja! am Parkett ein leises Streichen,
Wie Wiesel nach der Stiege schleichen –
Und immer härter, Tapp an Tapp,
Wie mit Sandalen, auf und ab,
Es kömmt – es naht – er hört es keuchen; –

Sein Sessel knackt! – ihm schwimmt das Hirn –
Ein Odem, dicht an seiner Stirn!
Da fährt er auf und wild zurücke,
Errafft das Kind mit blindem Glücke
Und stürzt den Corridor entlang.
O, Gott sey Dank! ein Licht im Gang,
Die Kutsche rasselt auf die Brücke!

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© Christiane Frohmann



Fabian Raith

Wo wir anfangen. Eine Polemik. Zum Familienmuseum auf Burg Hülshoff

Dieses Museum ist feudal. Ganz einfach. Es stellt eine Familiensaga dar, die von der Familie selbst geschaffen wurde. Es ist ein Museum, das ein positives Bild einer Familie bis in die Jetztzeit zeichnet. Es ist eine Weihnachtspostkarte in Museumsform. Dieses Museum ist nicht: Das Abbild einer Epoche, der Lebensort einer deutschen Dichterin, ein historisches Original. Dieses Museum ist ein Familienmuseum in dreifacher Hinsicht: Es ist ein Museum von einer Familie, ein Museum, das etwas über eine Familie erzählt und ein Museum darüber, wie Familie einmal war.
Gehen wir durch diese Räume, stellen wir uns ein Leben vor, das es nie gab. Die Zeit wurde nicht angehalten, es wird kein bestimmter Zeitpunkt dargestellt, sondern ein Deep Fake einer Familie aus nachgekauften Möbeln, Gemälden und Möbeln aus drei Jahrhunderten und wunderschönem Holzboden, produziert. Der Wahrheitsanspruch, den wir an Museen anlegen, wird hier negiert: Hier wird alles nebeneinander dargestellt, gleichwertig präsentiert. Museen werden als wissenschaftliche Institutionen gesehen, die Wissen vermitteln oder in denen Kunst gezeigt wird. Hier wird Wahrheit produziert und ausgestellt und auch wenn diese Wahrheit nie objektiv ist, so wird sie doch fast nie von denen erzählt, um die es geht. Museen sind in Zeiten von Deep Fakes, Fake News und Verschwörungstheorien Orte, die Rationalität begehbar und erfahrbar machen können.

Dieses Museum stellt die Wahrheit einer Familie dar: Die Ahnengalerie endet mit einer Person, die im Jahr 2015 verstarb. Selfies waren da schon kein jugendlicher Trend mehr, und doch fehlt dem Museum jede Drehung zu einer modernen Welt. Es gibt hier keine Fotos. Es gibt keine Telefone. Keine Bildschirme. Keine Gespräche. Dabei muss es Telefone, Bildschirme, Fotos, Gespräche gegeben haben. Diese sind ebenso ein zeithistorisches Element, wie all die anderen Gegenstände hier und müssten in einem Familienmuseum auftauchen.

Hier passt alles nicht und nicht alles zusammen: Dinge bleiben außen vor, wenn sie für das Gesamtbild keine Rolle spielen oder die Rolle, die sie spielen, nicht ins Gesamtbild passt. Dieses Museum ist ein Wanderweg durchs Gebirge, der ohne Höhenmeter auskommt. Hier ist nichts anstrengend, nichts kritisch. Die Erzählung des Museums hat so viele blinde Flecken, dass die sichtbaren Flecken schon auffälliger sind. Hier tauchen so viele Erzählungen nicht auf: Das mindestens schwierige Verhältnis der Familie Droste zu Jüd*innen. Die Familie Droste als Großgrundbesitzer*innen. Die Geschichte der Familie Droste während des zweiten Weltkriegs. Einiges darin ist bestimmt schmerzhaft und könnte ein Familienbild belasten, aber könnte nicht gerade das die Stärke eines Museums über Menschen sein? Die Darstellung von Konflikten und ihrer Beilegung, die Überwindung einer falschen Position und die Umsetzung großartiger Ideen?

Dieses Museum stellt die Frage danach, wessen Geschichte erzählt werden soll und wie sie präsentiert wird. Hier gibt es keine Wahrheit. Das Museum gaukelt eine Authentizität vor, die es nicht einhalten kann. Hollywood. Hülshoff.

Lizenz Text: Fabian Raith, Wo wir anfangen. Eine Polemik. Zum Familienmuseum auf Burg Hülshoff, CC BY-SA 4.0




Gerhild Steinbuch

Körpertext (Auszug)

die stimme steht im raum und will irgendwo hin, die will irgendwo rein, haben nun also die stille vernichtet, damit da was rinnsalt, damit da was reinrinnt, in die anderen körper, damit der – dieser – körper endlich aus sich rauskommt und was andres wird. auch ja irgendwie nichts schönes, so ein körper, der irgendwo rumsteht und ist, was er sein muss, der immer irgendwas sein muss, der muss immer irgendwas sein, was vorher in ihn hineingejagt worden ist.
mein körper steht immer irgendwo rum und will was sagen, damit die geschichte weitergeht, nein, damit sie anders weitergeht, damit sich irgendwann ein raum aufmacht, in dem ich endlich nicht mehr ich sein muss. es beginnt bei bei der geburt: die klammern werden im mundinnenraum fixiert, die mundwinkel hochgezogen, jetzt lächelt der mensch, er lächelt beim treffen mit noch unbekannten, er lächelt auch beim treffen mit bereits längst altbekanntem, obwohl da vielleicht eher kotzen angebracht wär, egal, lächle und die welt lacht mit dir, sei du selbst, aber bitte so, wie man sich das so vorstellt. jetzt wird gelächelt. und jetzt: applaus. das war ja einfach.
ich steh also so rum und will was sagen, damit eine geschichte weitergeht, in der mein körper auch mal platz hat, eine geschichte, die sich nicht anlegt wie ein sehr schönes sehr luftdichtes korsett, so eine eindeutige eindeutigkeit, die ist schon was schönes, nicht wahr, da kannst du reden was du willst, da kannst du schreien was du willst, es ist ein ständiges sportliches unterfangen, dass man da nicht drin verschütt geht, meine stimme sagt was, meine stimme sagt nichts, denkst du, egal, meine stimme macht immer weiter, meine stimme hätte nämlich ziemlich was zu sagen, meine stimme, die will nämlich rein in die eindeutigkeit, die sich zwischen körper und sprache so unappetitlich eindeutig aufgefaltet hat. jetzt nimmt sie anlauf, und jetzt kracht sie gleich dazwischen, dass alle an- und absprachen, alle zurichtungen und standplätze ordentlich durcheinander gewummst werden, meine stimme schießt sich zwischen die körper und ihre sätze und dreht ordentlich ab, meine stimme ist ein wurfgeschoss und eine ziemlich flinke superheldin, meine stimme ist ein neuer körper der aus dem körper knallt, immer im training, dreht ab, hebt ab, die fängt immer was neues an –

Lizenz Text: Gerhild Steinbuch, Körpertext (Auszug), CC BY-SA 4.0


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© Christiane Frohmann


Tee und Massagen. Ein Gespräch zu Museum und Privileg

Anlässlich der digitalen Sonderausstellung – und auch, weil wir gerade generell überlegen: Wie können wir das Museum eigentlich umgestalten und öffnen – für Sonderausstellungen, für Veranstaltungen, für alle – haben wir in Ruhe gesprochen. Mit Gegenwartskünstler*innen aus verschiedenen Bereichen, die alle schon mal hier waren. Wir haben sie gefragt, was sie eigentlich mit dem Museum auf der Burg Hülshoff und dem Rüschhaus verbinden, was sie sich für Schwerpunktsetzungen innerhalb der Häuser vorstellen können. Und ob nicht ein Museum an sich, aber vor allem auch ein Familienmuseum auf einer Wasserburg in der Genealogie einer Adelsfamilie ein totales Privileg ist.

Mit dabei sind Daniela Dröscher (Autorin), Fabian Raith (Medienkünstler), Senthuran Varatharajah (Autor), Shlomi moto Wagner (Opernsänger & Performer), Julia Lerch Zajączkowska (Kuratorin).
Gefragt und zugehört haben Jörg Albrecht: Albrecht (Künstlerischer Leiter des CfL & Gründungsdirektor der Annette von Droste zu Hülshoff-Stiftung) und Kerstin Mertenskötter (wiss. Mitarbeiterin am CfL für Museum & Digitales).

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© Sabrina Richmann, http://www.sabrinarichmann.de, CC BY-SA 4.0

Jörg Albrecht:
Ich freue mich, dass alle Zeit haben und wir uns in dieser Runde in Ruhe und ungezwungen unterhalten können. Was ist eigentlich das Anliegen unseres Treffens? Wir sind ja gerade dabei, die beiden Orte der Burg Hülshoff und des Haus Rüschhaus, die wir betreiben, neu zu denken und natürlich auch die Frage nach den Museen zu stellen.
Der ganz akute Anlass unseres Gespräches ist der Katalog zur digitalen Sonderausstellung Das Biedermeier-Phantasma | Deep Fake, die wir mit Fabian Raith machen und die bald auf der Burg eröffnen wird. Heute wollen wir uns ganz spezifisch der Frage, was »Museum« mit ‚Privileg‘ zu tun hat, nähern – auch weil es sicher ein Strang der Sonderausstellung sein wird. Und letztlich geht es auch um die größere Frage: Wie wollen wir eigentlich diese Museen transformieren? Das hängt ja auch mit dem zusammen, wohin es global und gerade gesellschaftlich geht. Julia, du warst ja im vergangenen Jahr auch schon im »Zukunftslab Museum« dabei, wo wir die Frage intensiv diskutiert haben.
Mir liegt vor allem das Burg-Museum einerseits am Herzen, aber auch im Magen, weil ich irgendwie nicht so richtig verstehe, wie wir damit weiterkommen können, wenn wir es nicht radikal verändern. Auf der anderen Seite merke ich, dass es auch keinen Sinn hat, zu sagen »wir verändern es radikal« und doch muss etwas passieren und das ist auch der Grund, warum ich dachte, es ist schön eine Runde zu haben, in der wir einmal darüber nachdenken, was dieses Wort Privileg in diesem Kontext bedeutet. Auf der einen Seite haben wir Familie von Droste zu Hülshoff, die durch unterschiedliche Umstände adelig wurde, auf der anderen Seite haben wir auch noch die Dichterin, die den Kulturadel verkörpert. Ohne sie wäre der ganze Ort heute auch nicht mehr von der Bedeutung, die er hat und was das heißt, interessiert mich auch. Gewichten wir das unterschiedlich? Und was bedeutet Privileg in Bezug auf Droste selbst? Sie hat bestimmte Privilegien gehabt, andere in ihrer Zeit dann wiederum nicht. Ich glaube, wir kommen an diesem Thema nicht vorbei.
Ich würde jetzt tatsächlich auch gerne verschiedene Ansätze zusammenführen, weil ich glaube, dass ihr tatsächlich alle auf unterschiedliche Weise mit diesem Komplex zu tun habt. Ich habe gerade viel Ingeborg Bachmann gelesen, die eine meiner Lieblingsschriftstellerinnen ist. Es gibt eine neue Edition, in der unveröffentlichte Dokumente herausgegeben werden. Vor Weihnachten habe ich Ingeborg Bachmanns Traumprotokolle gelesen und dort schreibt sie an einer Stelle über Privilegien und psychische Erkrankung und zwar, dass nur jemand, der privilegiert ist und psychisch leidet, sich vielleicht einigermaßen vorstellen kann, wie es ist, keine Privilegien zu haben und darunter zu leiden.
Dies ist vielleicht ein guter Ansatzpunkt für uns - was darin steckt, ist auch die Frage: »Können wir eine minoritäre Perspektive an einem Ort einnehmen, der eigentlich auch minoritär ist?« Der Adel war ja auch immer eine Minderheit, aber natürlich das höchste Privileg. Ihr seht schon, dass das sehr widersprüchlich ist, weil da verschiedene Dinge zusammenkommen, die nicht ganz klar voneinander zu trennen sind. Du Shlomi, hast ja zum Beispiel mit Museum vielleicht erst einmal nicht so viel zu tun, höchstens in der Form, dass Oper ja auch eine Art von Museum bestimmter Darstellungsformen ist. Du arbeitest aber auch sehr stark an dem Thema, wie wir Dinge darstellen können und was das mit unserer Körperlichkeit zu tun hat. Wie beziehst du in Performances auch Menschen mit ein, die als das Publikum da sind? Das wäre zum Beispiel auch eine Frage, die ich habe; wie temporäre oder ephemere Performances in solch einen Raum wie das Museum einfließen können, das ja erst einmal unabhängig vom Ephemeren ist. Irgendwie ist es da und dass über eine gewisse Zeit. Bei uns ist es letztlich schon über Jahrzehnte derselbe Raum.

Shlomi moto Wagner:
Ich hatte immer das Gefühl – beziehungsweise ich habe das erfahren – dass Menschen mit meiner Lebensrealität oder Erfahrungen einfach nicht gezeigt oder repräsentiert sind. Es gibt immer zwei Geschlechterrollen, deren Stimmen als Standard gelten. Es war mir am Anfang nicht wirklich bewusst, dass meine Realität einfach gelöscht und nie erzählt wird. Als ich anfing zu singen, habe ich somit mehrere Rollen gesungen, die sehr weit weg von meinen Erfahrungen waren. Vielleicht waren sie eine gesellschaftliche Utopie oder ein Ideal, ein Modell, doch sie hatten nichts mit meinem Leben zu tun. Ich denke, für mich war der erste Schritt, zu vertrauen, dass es ausreicht einfach mich selbst zu präsentieren. Mich selbst zu präsentieren bedeutet, eine Geschichte zu erzählen, die nicht ein Ideal oder eine Utopie ist. In Bezug auf die Frage, was das Museum zeigen will, bedeutet das zu fragen: Will man eine ideale Gesellschaft von Stimmen, von Geschlecht, von Körperlichkeit darstellen oder können wir irgendwie die Realität ins Museum bringen? Für mich war das eine Reise durch meine eigene Intuition und eigenen Gefühle. Einfach darauf zu vertrauen, dass ich durch meine Intuition und Gefühle, durch mein Atmen, meinen Rhythmus, mein Wesen und einfach mich selbst zeigen kann. Um dadurch diese ganze Geschlechtsmythologie zu dekonstruieren, auch wenn es nur temporär in einem Raum, im Theater oder in meiner Performance geschieht. Und um dann durch meine eigenen Fantasien und Visionen eine neue Mythologie zu erfinden. Ich weiß nicht, ob und wann meine Arbeit zu einem Ende kommen kann, ob es ein Ende gibt oder eine authentische Antwort oder...

Jörg Albrecht:
… die Verwirklichung?

Shlomi moto Wagner:
Genau! Ich muss einfach jederzeit hinterfragen und mir meine Gefühle aufschreiben oder zeigen.

Daniela Dröscher:
Mir kam das Museum vor wie so ein verrücktes Filmset, also wie so eine Kulisse im besten Sinne. Und es wäre doch spannend, das zu kombinieren mit ephemeren Formen, sei es Oper, Performance oder was auch immer. Das Museum ist dann nicht mehr als Ausstellungsraum zu denken, sondern als Raum von Begegnung, von Erfahrung. Man würde also eher mit einem Refugiumscharakter denken. Ich muss an eine so halb geglückte Arbeit aus der Frankfurter Schirn denken. Da gab es eine Opernsängerin, die sich im Ausstellungsraum aufgehalten hat, aber unerkennbar war. Und die hat dann innerhalb von vier Stunden irgendeine Besucher*in ausgesucht und mitgenommen. Die sind dann in einen Nebenraum gegangen und da hat die Opernsängerin eine Arie gesungen, aber nur für diese eine Person, ganz privat und intim. Und das fänd ich wirklich interessant: Diese große, epische Form, die auch das Museum in sich trägt, in eine Intimität zu übersetzen.

Jörg Albrecht:
Ich finde es auch schön, dass du Refugium sagst, weil ein Museum ja oft so beschrieben wird, aber ich glaube in einem anderen Sinn. Nicht in dem Sinne, dass ich mich dort von der Welt erholen kann, weil hier noch alles so ist, wie es mal war. So wie du es beschreibst, ist es ja ein Ruhepunkt, um zusammenzukommen und sich vielleicht über Dinge zu verständigen, die aber passieren ...

Daniela Dröscher:
… oder Dinge, die in diesem Raum nicht vorkommen!

Jörg Albrecht:
Genau! Ich glaube das ist auch ein Punkt, an dem wir mal zusammen mit dem Projekt der digitalen Sonderausstellung angesetzt haben. Was ist da eigentlich rekonstruiert in diesem Museum? Also in beiden Museen eigentlich. Der eine ist dann der Erwachsenenort, also der Dichterinnenort, das Rüschhaus, das andere ist die Burg, wo die Familie auch dementsprechend ausgestellt wird. Offiziell lief es auch noch lange unter dem Titel »Familienmuseum«.

Fabian Raith:
Das Eigenartige an diesem Ort ist ja, dass alles total eklektizistisch ist. Also von Gemälden über irgendwelche Urkunden, aber auch Originalschriften von Droste, ist alles irgendwie zusammengekommen und alles hängt jetzt in diesen Räumen. Und der Punkt ist auch, dass die Familie ein ganz bestimmtes Bild von sich erzeugt. Die Frage wäre dann: Ist es wirklich so gewesen, wie die Räume es einem vermitteln? Wurde zum Beispiel an dem großen Tisch wirklich gegessen? Es gibt dort diese große Gemäldegalerie mit etwa 12 Leuten. Und so eine Gemäldegalerie ist ja eigentlich uralt, aber jetzt ist das letzte Bild dort von 2015… Es gibt ganz viel in diesem Museum, das eigentlich der Darstellung nach außen widerspricht.

Kerstin Mertenskötter:
Besucher*innen haben eine Erwartung an diese Klassifizierung oder Einordnung, aber auch Semantisierung, die ein Museum immer vornimmt und die erst einmal aufgedeckt werden muss. Da wäre es ein Arbeitsschritt, zu sagen: »Wir gucken da mal hin und so, wie das Museum Objekte gerade ausstellt, so war es in Wirklichkeit gar nicht«. Zudem frage ich mich, was diese Erwartungshaltung an die Institution Museum ist, die noch vor dem Besuch über ihr schwebt. Uneindeutigkeiten aufzuzeigen, was du, Shlomi moto Wagner:, in deiner Performance auf jeden Fall zum Thema machst, Museen aber eher selten. Denn es gibt ausgewählte Objekte und eine, ich sage mal, im plastischen Sinne eindeutige Zuschreibung, was die Objekte sind, woher sie kommen oder wie auch immer. Ich frage mich, mit welchen Mitteln der Performance, Digitalisierung oder Vermittlung man fluide ephemere Momente einbringen kann und was bedeutet das für die Rezeptionshaltung der Besucher*innen, die diesen Ort dann besuchen? Was müssen sie dafür mitbringen und wie enttäuscht oder überrascht – hoffentlich positiv überrascht – sind sie dann, wenn sie dort hineingehen?

Julia Lerch Zajączkowska:
Museen sind ja ganz unterschiedlich und man kann die Burg Hülshoff jetzt nicht mit einem großen Kunstmuseum vergleichen, aber natürlich ist es auch ein Museum. Darin gibt es nicht diese eindeutigen Zuschreibungen, also Kärtchen im Raum, die mir dann genau erklären, was was ist. Wir haben so einen Steinapfel vorgefunden – keine Ahnung warum er da lag – aber so kam uns halt alles andere auch vor. Keine Ahnung warum das jetzt hier steht und warum auf dem Bett, das zu Drostes Zeiten niemals in diesem Raum stand, noch so ein Nachthemd liegt. Ich kann ja nicht für alle sprechen, aber ich persönlich komme da rein und habe sofort das Gefühl: Das hat nichts mit mir zu tun. Das ist so eine total konservierte Vergangenheit und da ist auch ganz viel Quatsch dabei. Erst wenn ich Informationen zu den Gegenständen erhalte, wird es interessanter, dann wird es irgendwie lebendiger und ich glaube, das müsste da noch viel stärker sein. Denn wenn sich in den 80ern oder wann das war, jemand überlegt hat, dass dieses Museum so funktioniert, erzählt das ja auch eine Geschichte über unsere Gesellschaft an diejenigen, die eigentlich entscheiden, was wie ausgestellt wird.

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© Sabrina Richmann, http://www.sabrinarichmann.de, CC BY-SA 4.0

Jörg Albrecht:
Ich glaube das war in den 70ern. Das war ja die Entscheidung der Familie, eine Etage in dem bewohnten Haus wirklich zum Museum zu machen – aus ökonomischen Gründen. Und gleichzeitig zeigen sie, wie die Familie auf der Burg Hülshoff vor 150 Jahren gelebt hat.

Julia Lerch Zajączkowska:
Ja, und ich glaube, jetzt habt ihr die Chance oder seid an einem Punkt, der darüber hinausgeht. Für mich war die Zeit, die wir im Rahmen des Projektes Dark Light Dark im Museum verbracht haben immer eine Suche nach dem, was interessant ist und womit wir arbeiten können. Zum Beispiel fand ich im Haus Rüschhaus diese wahnsinnige Sammlung an Steinen und Schnecken und Muscheln von Droste zu Hülshoff total spannend. Dabei denke ich dann gleich an die Zeit des frühen 19. Jahrhunderts, an die »Entdeckung der Welt«, an die Entstehung von Wissenschaft. An diese Sammelwut! Und ich unterstelle der Familie an sich erst einmal gar nichts, sondern ich assoziiere einfach die Zeit und finde dann interessant, warum da so viel gesammelt wurde. Außerdem finde ich die Objekte auch ästhetisch interessant. Ich glaube, das sind so kleine Punkte, an denen ich dann weiterarbeiten würde. Ich glaube, dass da ganz viel erzählt werden kann.

Jörg Albrecht:
Du hast ja gerade auch darauf verwiesen, dass im Grunde ja sogar Texte fehlen, wie sie in den Museen lange Zeit auch üblich waren; das nutzt sich vielleicht so ein bisschen ab gerade. Es gibt viele Ausstellungen, die immer noch sehr stark mit Texten arbeiten und klar, dabei ist ja auch die Frage, in welcher Sprache gesprochen wird. Auch da wissen wir, dass es eine stark objektivierte Sprache in Museen gibt, die aber überhaupt nicht objektiv sein kann, da sie ja ganz klare kuratorische Positionen vermittelt. Das ist auch eine grundsätzliche Frage für mich, wie wir in so ein Museum gehen und in welcher Sprache wir dann darüber sprechen können, denn wir haben ja einen Ort, an dem die Dichterin geboren wurde und gleichzeitig das Center for Literature. Also müssten wir nicht eigentlich schon wieder die Literatur anrufen, um überhaupt zu beschreiben, was dort passiert?

Senthuran Varatharajah:
Ich glaube, dass wir auch immer wieder das Moment der Fiktionalisierung bedenken müssen, also wenn es um Dekorationen in der Ausstellung geht. Natürlich ist es ein anderes Moment oder ein anderes Element von Fiktionalisierung, wenn wir es mit historischen Daten zu tun haben; wenn es darum geht, wie das Center for Literature im Droste zu Hülshoff-Gelände aussieht. Aber wir haben ja auch eine gewisse Vorstellung davon, wie wir die Objekte anordnen und in welchem Zusammenhang sie nicht nur mit den Texten stehen, sondern auch mit dem Mythos der Person, die wir gerade darstellen wollen.
Zudem ist natürlich die Frage interessant, die du, Jörg Albrecht:, gestellt hast: Wie sprechen wir als Menschen, die so etwas organisieren, über die jeweiligen Kunstwerke und wie sind die Texte verfasst? Mir ist sehr oft aufgefallen, dass die Texte in Museen in Deutschland extrem akademisch und auch in diesem sehr unangenehmen, nicht unbedingt kunsthistorischen, sondern kunstwissenschaftlichen Ton verfasst sind, der immer irgendwie die Nähe zur französischen Theorie und zu deren Vokabular sucht, um sich eine größere Würde zu geben. Oftmals sind die Texte wirklich Nulltexte. Und ich finde es bestürzend, dass wir uns darauf geeinigt haben, so über Kunst zu reden und wir diesen großen Jargon haben, indem einfach nur Buzzwörter auftauchen.
Sehr schön fand ich es zum Beispiel im Seattle Museum of Art, wo sie anstatt Informationen zu den Künstler*innen einfach nur Zitate oder Auszüge von dem, was sie gesagt haben, anfügten. Beispielsweise wird zu Barnett Newman nicht geschrieben, was dieses oder jenes seiner Werke bedeutet, sondern was eine andere Person darüber denkt. Diese intime Auskunft fand ich viel interessanter als die bloße Sammlung von Daten, die wenig zum Kunstwerk beitragen. Wir sollten uns also darüber hinaus fragen, wie wir das Kunstwerk darstellen wollen und mit welchem Fiktionalisierungsmoment wir arbeiten.

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© Sabrina Richmann, http://www.sabrinarichmann.de, CC BY-SA 4.0

Jörg Albrecht:
Ja und es ist natürlich auch so, wie du es am Anfang in deinem Statement beschrieben hast. Auch das Aussuchen, Anordnen usw. sind ja eine Sprache oder haben mit Sprache zu tun. Nicht, dass alles darauf hinausläuft, wie wir über die Dinge reden, aber wir wissen ja, dass hinter dem Auswählen oder hinter dem Machen einer Ausstellung oder eines Museums Prozesse stecken, die durch Menschen gesteuert werden. Das heißt die sitzen wie wir jetzt an einem Tisch, reden darüber und dieses Reden fließt als Sprachliches auch in die Anordnungen im Museum ein und ist nicht unabhängig davon denkbar. Natürlich ist es keine Sprache, aber ich meine die Art und Weise wie dort visualisiert wird oder wie Themen behandelt werden. Das interessiert mich auch sehr stark!

Und in Bezug auf das Museum auf Burg Hülshoff, das Museum einer adeligen Familie: Wie wollen wir als Menschen, die eigentlich nicht adelig sind, aber in einer Gesellschaft leben, die demokratisch oder bürgerlich oder bürgerschaftlich organisiert ist, damit umgehen? Wie kann sich das »Jetzt« widerspiegeln? Jedenfalls nicht durch die selbe Formsprache, die sich der Adel selbst gegeben hat. Da wäre ich jetzt auch wieder bei dem, was du, Shlomi moto Wagner:, am Anfang gesagt hast: Du selbst erkennst dich im System der Oper nicht in der Art und Weise wieder, wie dort dargestellt wird. Ich finde es interessant, dass du von Idealvisionen oder Utopien sprichst. Die Gestaltung des Museums ist ja eine Selbstvision der Familie von Droste zu Hülshoff gewesen, aber interessiert uns das jetzt überhaupt noch? Eher nicht. Ich sehe mich da nicht, wenn ich reingehe und ich würde sagen, dass es sehr vielen so geht.

Senthuran Varatharajah:
Ich frage mich auch, ob das eine der wesentlichen Fragen der ästhetischen Erfahrung sein muss. Ich verstehe auf einer politischen Ebene all das. Ich frage mich, ob das auf der Ebene der ästhetischen Erfahrung genauso wichtig ist. Natürlich habe ich mich, als ich klein war, mit vielen alten weißen Männern identifiziert. Es gab niemanden, der so aussah wie ich, aber ist das ein notwendiges Kriterium für Identifikation? Ich glaube nämlich nicht. Und in diesem Diskurs, wo es um Repräsentation geht, haben wir eine ganz unterschwellige identitäre Politik. Deswegen glauben wir, dass jemand genauso aussehen oder aus den gleichen Verhältnissen kommen muss. Ich verstehe zwar den politischen Grund, frage mich aber, ob das epistemologisch notwendig sein muss.

Jörg Albrecht:
Muss es nicht. Aber zum einen würde ich sagen, dass die ästhetische Erfahrung gerade ja auch nicht stimmt, bzw. stellt sich die Frage, ob sie überhaupt ästhetisch ist. Es ist nämlich alles nicht gesetzt, sondern Zufall. Also es gibt eine ästhetische Erfahrung, die aber in keiner Weise gestaltet ist, also ohne, dass es eine Stringenz oder den Gedanken dahinter gibt. Es wird für mich ja auch gar nicht darum gehen, dass es eine Eins-zu-Eins-Identifikation mit irgendetwas gibt, sondern das Gegenteil.
Wie könnten wir also, frage ich mich dann, eine Öffnung des Museums herstellen, sodass für möglichst viele Leute verstehbar wird, was da überhaupt verhandelt wird. Und dann sind wir schon bei Identitätskategorien und der Frage, wer diese Dichterin überhaupt war. Denn in der Gegend, in der wir uns bewegen, kennt jeder Annette von Droste-Hülshoff. Aber wenn man ein bisschen weiter weggeht, wird es schon schwieriger. Ich habe festgestellt, dass sie bereits in Österreich und der Schweiz eigentlich nur noch sehr wenige kennen, weil sie ein nationales Literaturgut darstellt. Und da fängt schon für mich an, dass wir einmal beschreiben müssen, was eigentlich die Kategorien sind, in die sie fällt. Sie gehörte zum Adel, zu einer christlichen Familie und war eine weiße Frau. Das hilft glaube ich schon, um eine Einordnung für Menschen zu machen, die ja vielleicht auch von ganz woanders herkommen und sich fragen, wer sie überhaupt war. Das einmal zu perspektivieren ist für mich nicht das Endergebnis, sondern eher ein Schlüssel, um ihr Bild mit anderen Dingen gegenüberstellen zu können.

Senthuran Varatharajah:
Ich finde interessant, dass du am Anfang von dem Begriff der Minderheit gesprochen hast. Der zeigt genau die Schwierigkeit: Der Adel ist faktisch, numerisch eine Minderheit, aber eigentlich eine mächtige. Und wenn wir den Begriff der Minderheit in einem politischen Diskurs verstehen, ist damit immer Ohnmacht gemeint. Eine größere Gruppe, die im Verhältnis zu einer anderen, wesentlich größeren Gruppe, keine Macht hat.

Daniela Dröscher:
Und man würde niemanden auf seine Herkunft festschreiben wollen. Jeder wird ja in eine Familie und an einen Ort in der Welt hineingeboren. Und ich dachte gerade: Minorität, da ist man schnell bei der Solidarität und die beginnt ja oftmals dann, wenn es irgendwie weh tut: Die beginnt oft dort, wo Identifikation aufhört. Minorität, Solidarität, Stichwort »intersektional« und Droste, ich finde die konkurrieren. Weiße Frau und adelig. Wie kriege ich das zusammen mit Erfahrung von Queerness, von Geflüchteten ...

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© Sabrina Richmann, http://www.sabrinarichmann.de, CC BY-SA 4.0

Senthuran Varatharajah:
Wobei bei der Diskussion um Meghan Markle ist natürlich interessant: Jetzt hat man eine Frau, die nicht adelig ist, die schwarz ist und die quasi in den britischen Adel einheiratet, fer in Sklaverei und alle kolonialen Geschichten verwickelt war. Und ich kann mich erinnern, als das 2015 publik wurde, gab es bei Channel 4 eine schwarze Aktivistin, die sagte: »Finally I can see myself in the Royal Family.« Und das war für mich als Marxisten einfach … Allein dieser Impuls, dass das den Menschen auf einmal so viel relief gegeben hat. Und ich dachte mir, wir sollten den Adel doch abschaffen, anstatt zu sagen: »Lass uns den Adel noch diverser machen.«

Fabian Raith:
Wenn man sich einmal Drostes Lebenslauf ansieht, dann war sie zum Beispiel an allen MINT-Fächern sehr interessiert. Sie hat viel gesammelt, hat sich Sachen angeguckt, hat super viel geschrieben und eigentlich ist sie so wie Goethe, aber er war eher das Universalgenie, der ja die komplette Stadt beherrscht in Weimar. Da kommt natürlich zusätzlich männliche Macht mit rein. Wenn man sich anguckt, wer ihre Zeitgenossen waren und warum sie im Vergleich zu denen so viel weniger als Künstlerin wahrgenommen wurde. Das wäre auch so ein Ansatzpunkt, den man in diesem Museum ganz gut beleuchten könnte, wenn schon Leute kommen, die sich eine heile Welt angucken wollen. Also damit zu brechen, dass das nicht so war, wie es bisher dargestellt wurde. Und sie hat alleine gelebt als Frau, was auch sehr ungewöhnlich war zu dieser Zeit. Ich meine damit, dass es dort ganz viele Geschichten gibt, die man erzählen kann.

Julia Lerch Zajączkowska:
Nach eurem Publikum wollte ich fragen. Wer kommt zu euch?

Jörg Albrecht:
In der Masse, bzw. die größten Gruppen, die zu uns kommen, sind Reisegruppen. Das sind tatsächlich Busladungen von Leuten, die ja Zeit haben und das sind oftmals Leute, die im Ruhestand sind. Und da würde ich jetzt sagen, auch allein weil die Stiftung als Annette von Droste zu Hülshoff-Stiftung die Burg nun betreibt und die Erwartung der Besucher*innen an der Burg als Geburtsort Drostes ausgerichtet ist, dass sich der Fokus natürlich dahin verschieben muss, wer und was diese Dichterin war.
Deswegen meine ich auch, dass wir natürlich nicht bei diesen Kategorien stehenbleiben, um sie zu beschreiben. Im Gegenteil: Es ist ja nur der Start, um in das Werk zu gehen und zu sehen, was eigentlich darin steckt. Ich glaube, dass dies der eigentliche Schatz ist, diese ganzen Texte zu haben, teilweise auch die Kompositionen, die sie gemacht hat, die Handarbeiten oder textile Arbeiten und Scherenschnitte. Letztlich sind dies auch ganz unterschiedliche Medien, in denen sie gearbeitet hat. Dazu die Objekte, die sie gesammelt hat und mit denen ihr in der Führung auch teilweise umgegangen seid, Julia. Ihr habt in dessen Verlauf eigentlich eine eigene Sammlung eröffnet und da müssen wir uns fragen, wie wir das jetzt vermitteln können. Die Folie zu vermitteln, hat bisher super funktioniert, weil die Leute ja sogar ins Museum kamen, obwohl sie als Dichterin dort gar nicht vorkam, einfach nur, weil sie dort geboren wurde.

Julia Lerch Zajączkowska:
Ihr Nachthemd liegt noch da!

Jörg Albrecht:
Und dieses Kleid, genau! Aber wie gehen wir jetzt in die Tiefe und wie machen wir das jetzt wirklich verständlich für ganz viele Leute, ohne so überdidaktisch zu sein und dabei keine Komplexität zu scheuen. Wie können wir den Ort und Drostes Werk trotzdem für verschiedene Lesarten öffnen, aber auch für Gegenwartskunst, die sich darauf bezieht oder dazu in Beziehung steht.

Kerstin Mertenskötter:
Ich glaube, dass die Leute, die in der Region wohnen, stark an dem vermeintlich authentischen Aspekt interessiert sind. Wenn ihre Orte besucht werden, dann auch mit dem Wunsch, wirklich an diesem Ort zu sein. Beispielsweise im Rüschhaus, wo sie Die Judenbuche geschrieben hat, besucht man den Ort, an dem sie beim Schreiben aus dem Fenster geguckt hat. Dieser Wunsch der Begegnung ist, glaube ich, schon relativ stark in der Rezeption des Ortes, was vielleicht auch eine Generationenfrage ist. Wenn man eine andere Art von Ausstellung dort implementieren möchte, im Geburts- und Lebensort Drostes, wird man immer wieder mit dem Wunsch konfrontiert, dieses vermeintlich authentische Objekt zu finden und sich daran festzuhalten.

Senthuran Varatharajah:
Ja, in Münster gibt es ja dies lokalpatriotische Duzen. Dort sagt man »Die Annette«. Sie gehen »zur Annette«. »Sie wollen zum Center for Literature? Ah, Sie wollen zur Annette!« Das finde ich auch interessant.

Daniela Dröscher:
Ein männliches Pendant dazu fiele mir auch nicht ein, wo wir wieder bei Bedeutungshoheiten wären. Für uns ist es natürlich »Annette«, aber es ist nicht »Heinrich«.

Julia Lerch Zajączkowska:
Ich mag irgendwie diese Idee von sich reinschreiben, etwas überschreiben und ich fänd es interessant, diese Konstellation von Literatur und Museum stärker zu machen. Denn ich vermisse ... Subjektivität. Denn wann ist mir jemals im Museum Subjektivität begegnet? Und Subjektivität ist nun einmal ein Quell der Literatur. Man könnte also Kolleg*innen einladen, also wirklich live an den Tisch setzen und sie können sich den Raum erschreiben.

Fabian Raith:
Bei dieser Ausstellung in diesem Museum hat man eigentlich das Gefühl, man läuft durch diesen Raum und überall steht »Nicht Anfassen!«

Julia Lerch Zajączkowska:
Ja, weil man es ja auch ein bisschen so gelernt hat, oder? Ich glaube, dass es nicht unbedingt an diesem Ort liegt, sondern dass wir an vielen anderen Orten gelernt haben, man darf nur gucken. Warum sollte es zum Beispiel überhaupt interessant sein, einen Tisch auszustellen, an dem jemand ein Buch geschrieben hat? Darüber habe ich auch mit Olivia (Wenzel) gesprochen. Sie ist Autorin und meinte, sie würde das niemals wollen. Es wäre vielleicht spannender, Autor*innen einzuladen und, falls es diesen Tisch gibt, sie daran zu setzen, damit sich dieses Gewicht einmal verschiebt.

Senthuran Varatharajah:
Wenn es um die Ausstellungstexte geht, finde ich auch interessant, wie man Gegenwartsbezüge herstellen und von bloßen Fakten und Daten weggehen kann. Es wäre doch ein schöner Gegenwartsbezug bei manchen Objekten oder Orten im Museum nicht nur Texte von Annette von Droste-Hülshoff zu haben, sondern auch Texte aus der Gegenwart, die miteinander korrespondieren. Und man könnte zu einem Objekt statt einen Ausstellungstext einfach einen Gegenwartstext zeigen, der vielleicht mehr dazu erzählen kann, als eine bloße Auflistung und banale Informationen es können.

Jörg Albrecht:
Ich würde das sogar noch erweitern und vielleicht eher das Ganze neu ordnen, um zu sehen, welche Objekte überhaupt interessant sind und in welcher Reihenfolge, in welchen Räumen wir sie überhaupt präsentieren wollen. Zur Zeit gibt es ja keine wirklich durchdachte Ordnung. Und dann könnte man Ergänzungen oder Zwillingspärchen konzipieren. Beispielsweise behält man die Ahnengalerie, weil die historisch in die Burg gehört und das Thema Familie und Genealogie aufmacht, und dann setzen wir ein Gegenwartskunstwerk dazu, das jemand für uns entwickelt hat oder das vielleicht schon existiert. Es kann textuell sein, es kann rein visuell sein, es kann analog oder digital oder im Zwischenbereich sein. Und es führt das Thema Genealogie oder Erbfolgen für die heutige Zeit weiter. Heute denken wir über so etwas anders nach und natürlich wird außerhalb des Adels anders über Genealogien nachgedacht als innerhalb.
Und das zweite Moment, das mich interessieren würde, wäre: Wie oft wechselt so eine Ausstellung? Wollen wir eine neue Dauerausstellung machen, die dann wieder zehn Jahre halten soll, während wir auf unseren digitalen Geräten unterwegs sind und alle fünf Minuten Updates bekommen? Oder soll es eigentlich so sein, dass wir eine Ausstellung konzipieren müssten, die sich in sich verändern kann, wir die Objekte immer wieder neu kombinieren können.

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© Sabrina Richmann, http://www.sabrinarichmann.de, CC BY-SA 4.0

Julia Lerch Zajączkowska:
Wer ist denn "wir", wenn du davon sprichst, dass ‚ihr‘ oder ‚wir‘ die Objekte auswählen? Ich frage auch, weil ich es ein bisschen so verstanden habe, dass wir auch über Museum und Privileg sprechen, da im Museum immer bestimmte Leute das Privileg haben, zu entscheiden, was gezeigt wird. Ihr seid ja gerade dabei das aufzulockern oder ein eigenes System zu finden und eigentlich ja auch eine eigene Sammlung aufzubauen. Da gibt es die Objekte, aber auch die Arbeiten von uns allen. Und es gibt diese Momente, die dort archiviert werden.
Es ist ebenfalls total spannend, zu sehen, wie und wer mit so einer Sammlung umgeht. Denn diese Texte in Museen, die so daherkommen, dass eigentlich nur die Person, die den Text verfasst hat, ihn überhaupt versteht und lesen möchte. Das liegt ja auch daran, dass die meisten großen Museen so aufgebaut sind, dass es Kurator*innen gibt, die einen großen Hoheitsanspruch auf ihre Sammlungen haben. Und sie wollen dieses Wissen, das nur sie selbst haben, auch nur allein auf das Papier bringen. Das ist ja ein riesiger Wettbewerb, wenn man so möchte. Was ihr jetzt machen könnt – bzw. ihr seid ja bereits dabei – ist, das Museum noch einmal anders zu denken und die Sammlung anders zu behandeln.

Jörg Albrecht:
Das finde ich schön, dass du das sagst, weil ich glaube, dass sind jetzt unsere beiden Aufgaben, die ja wieder zusammenhängen. Es gibt ja nicht diese Fronten der Umgestaltung von »Wir machen alles neu« oder »Es bleibt alles alt«, sondern die Frage ist, wie Zwischenmomente und Konzepte gemeinsam entstehen können. Das wird in den nächsten Monaten und Jahren in den Museen unsere größte Aufgabe sein.

Senthuran Varatharajah:
Kannst du, Julia, vielleicht kurz zu der Arbeit von Olivia (Wenzel) und dir erzählen? Ich war zwar nicht dort, aber ich habe davon gelesen auf der Homepage. Hatte die nicht mit der kolonialen Vergangenheit zu tun?

Julia Lerch Zajączkowska:
Das war die Einladung. Das ging nämlich aus von ... diesem ziemlich schlecht ausgeleuchteten Gemälde, das ein bisschen aus dem Rest, der dort im Museum gezeigt wird, herausfällt.

Jörg Albrecht:
Ich versuche einmal, es zu kontextualisieren. Es gibt eine Sammlung von historischen Stichen, wo Pferderassen mit ihren jeweiligen Besitzern abgebildet werden. Also »Der Spanier« ist dann als spanisches Pferd mit einem Spanier mit Allongeperücke abgebildet und »Der Türke« ist eben ein türkisches Pferd mit einem sehr dunkelhäutigen Mann mit Turban und Säbel daneben – und im Hintergrund sind Pyramiden zu sehen.
Zudem gibt es einen Roman von einem Autor aus Münster, Hermann Mensing, der über die Geschichte eines Mannes auf der Burg geschrieben hat, der im 18. Jahrhundert dort als Leibeigener lebte und wie viele andere aus dem heutigen Ghana nach Europa verschleppt worden war, um dann an den jungen Droste-Hülshoff verkauft zu werden und als sogenannter »Kaffee-Mohr« die Leute zu bedienen. Dieser Roman hat eben jenes Bild auf dem Cover, obwohl das Bild mit der realen Geschichte um den verschleppten Ghanaer nichts zu tun hat.

Julia Lerch Zajączkowska:
Genau. Das war der Ausgangspunkt, dass jemand aus der Umgebung einen Roman über eine wahre Geschichte schreibt, sie aber fiktionalisiert und der Verlag für das Cover ein Bild benutzt, das nichts mit der Person zu tun. Das war dann eigentlich die Einladung, mit der kolonialen Geschichte dieser Familie umzugehen.
Wir haben schnell gemerkt, dass wir davon ausgehend eine Führung machen wollten, um diese Absurditäten aufzuzeigen. Es gab in der Führung durchs Museum verschiedene Stationen, an denen wir nicht gesprochen, sondern eine Art Audio-Tour entwickelt haben. Dort konnte man an unterschiedlichen Punkten im Raum persönlich kontextualisierte Geschichten zu dem, was sichtbar war, hören. Am Ende ging es nicht mehr um die Kolonialgeschichte, sondern eigentlich darum, uns anhand von sehr zufällig gefundenen Objekten hineinzudenken.

Jörg Albrecht:
Mit uns meinst du auch die Leute, die das mitgemacht haben und nicht euch als Performerinnen und uns als Publikum.

Julia Lerch Zajączkowska:
Euch als Publikum, aber in der Arbeit schon wir selbst.

Jörg Albrecht:
Ich fand eben toll, dass wir als Publikum wirklich mitgegangen sind und von euch beiden Objekte in die Hand bekommen haben, die wir dann am Ende in ein neues fiktives Museum stellen konnten. Also in eine Kommode, die zu einem neuen Museum wurde.

Julia Lerch Zajączkowska:
Genau. Wir haben innerhalb einer Stunde mit dem Publikum zusammen eine Art neue Sammlung aufgebaut. Und das einzig authentische Möbelstück in diesem Haus, nämlich eine alte Kommode von Annette von Droste zu Hülshoff, war am Ende für uns das Museum. Die war wie ein Container für uns und versammelte am Ende alle Vorschläge für eine sinnvolle Sammlung.

Senthuran Varatharajah:
Ich habe nachgefragt, weil ich mich an die Einstellung von Klaus Heinrich erinnerte, der Philosophie an der FU gelehrt hat und in einer Vorlesung sagte, dass die Religionswissenschaft das Verdrängte der Philosophie ist. Ich finde dieses Bild richtig schön, natürlich auch etwas psychoanalytisch, wenn wir uns anschauen, wie viel Verdrängung eigentlich im Narrativ des Adels am Werk ist.
Interessant wäre auch die Frage, welche Verdrängungsleistungen spielen da eigentlich eine Rolle. Also wenn wir zum Beispiel an diesen großen Schrank gegenüber der Ahnengallerie denken und das Geschirr darin, dann frage ich mich: Was würde eigentlich passieren, wenn wir dort Besteck, das eigentlich die Landbevölkerung, die die Äcker gepflegt hat, ausstellen. Also von denen, die tatsächlich das Essen, die Nahrungsmittel für den Adel beschafft haben. Oder traditionelles Besteck aus dem Gebiet, wohin Arbeiter*innen verschleppt und verkauft wurden. Ich glaube da könnte man die Sache ein bisschen aufbrechen, weil diese musealisierte und auch romantisierte Räumlichkeit mit dem Verdrängten, was sozusagen die Bedingung der Möglichkeit dieser Räume ist, konfrontiert.

Jörg Albrecht:
Diesen Gedanken finde ich total schön. Das tatsächlich so zusammenzubringen, um eben nicht das eine oder das andere oder um eben auch ein anderes Verständnis von Nähe und Ferne herzustellen.
Natürlich ist Annette von Droste zu Hülshoff als Dichterin, als Frau, noch einmal anders anzusiedeln, weil das System von Literatur stark männlich und patriarchal geprägt ist. Wenn wir zurückblicken und schauen, wie wenige Autorinnen durch die Jahrhunderte der Literaturgeschichtsschreibung übriggeblieben sind, wissen wir das. Einerseits interessiert mich so etwas natürlich als Thema, andererseits interessiert es mich aber auch, sie nicht als Frau festzuschreiben. Deswegen fand ich eben das interessant, was du vorhin gesagt hast, Shlomi moto Wagner:. Und ich frage mich schon, wie das, was du in deiner Kunst machst und was eben das Fluide bedeutet und die Geschlechter in eine Vielfalt führt, eben nicht mehr binär denkt, sondern mit ihnen spielt.

Du hast ja zum Beispiel auch mit Texten und Kompositionen von Hildegard von Bingen gearbeitet und ich stelle mir schon vor, dass es eben eine Art und Weise des Umgangs damit gibt, die anders ist, als immer wieder zu sagen, dass sie eine Frau war oder man deshalb jetzt nicht so viel erwarten kann. Eigentlich ist das Thema bei ihr ja nicht, dass sie eine Frau ist, sondern vielmehr das Leiden an dieser Differenz der Geschlechter.

Shlomi moto Wagner:
Ich denke auch, dass es wichtig ist, erst einmal zu verstehen, was ist die politische Geschichte oder was war die Gesellschaft und wo hat die Familie gearbeitet und ist zu diesem Gebäude und die ganze Familie zu Macht gekommen. Und die Frage wäre: Was war der Drive? Ich denke, das ist das, was wichtig ist. Um zu verstehen, könnte man erst einmal dekonstruieren, das Geschlecht, dieses ganze politische System. Und danach können wir verstehen: »Okay, was war dieser Drive?«, was war ihre Inspiration und wie inspiriert uns das jetzt?
Und das ist eine Arbeit, die Künstler*innen machen können, aber auch das Publikum. Es ist eine neue Ratio, aber es ist empirisch, man muss das fühlen, man muss das sehen. Und wir können recherchieren: Was hat inspiriert, was sie gelesen oder was sie geschrieben hat. Und wir können heute mit einer neuen Denkweise etwas Neues produzieren, Neues zeigen und so weiter. Aber vielleicht bleiben diese Gefühle als Verbindung, als etwas Wahres da.

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© Sabrina Richmann, http://www.sabrinarichmann.de, CC BY-SA 4.0

Daniela Dröscher:
Ich dachte gerade nur, das ist sie immer noch Subjekt sein zu lassen und nicht zum Objekt zu machen, weil ein Museum, das auf eine historische Figur fokussiert ist, läuft Gefahr – ihr seid zum Glück ganz weit weg davon – Personenkult zu betreiben. Als eine Form von Aneignung eigentlich.

Kerstin Mertenskötter:
Und dieser Drive von dem du sprichst, Shlomi moto Wagner:, klingt auch nach einem viel schöneren und besseren Moment, als der Wunsch nach Auratischem und irgendwie vermeintlich Authentischem. Denn klar, die Museen stehen an »authentischen« Lebensorten Drostes. Aber ihren Drive zu betonen, das hat dann so etwas Fluides, dass man in dem Gefühl ihrer Texte etwas haben und erfahren kann, das vielleicht noch viel näher an ihr dran ist, als zu sagen: »An diesem Schreibtisch hat sie geschrieben«. Und wenn man dem auf die Spur kommt, dann kann man da etwas bewahren von ihr, das dann so subjekthaft und so nah an ihr dran ist, dass alles andere auch nicht mehr diese Objekthaftigkeit braucht. Das ist ein total schöner und glaube ich ein hilfreicher Gedanke, weil ich immer noch ein bisschen an dieser Erwartung von Besucherinnen hänge, die an Drostes Geburtsort kommen. Die Frage wäre dann, welche Rezeptionshaltungen Besucherinnen eines solchen Museums mitbringen müssen und welche ihnen durch den »Drive« Drostes aber auch erst ermöglicht werden.

Julia Lerch Zajączkowska:
Bei dem, was ihr über die Intimität oder intime Momente im Museum gesagt, habe ich mich daran erinnert, dass ich im Sommer letzten Jahres eine total schöne Museumserfahrung hatte. Ich glaube sogar fast die schönste in meinem Leben. Ganz banal, aber das Haus, was Le Corbusier für seine Mutter gebaut hat, ist heute ein Ausstellungshaus und ganz klein. Es hat zwei Schlafzimmer und ein Wohnzimmer, liegt aber direkt am Genfer See und hat natürlich eine tolle Aussicht und ist einfach ein schöner Ort, wenn man sich für Architektur interessiert. Und was eben, abgesehen von dem Haus, so toll dort war, war eben, dass da drei Mitarbeiterinnen waren, die einen zwar abkassiert, aber dann erst mal relativ in Ruhe gelassen haben und im Garten mitgelaufen sind. Und wenn sie das Gefühl hatten, dass man sich für irgendetwas interessierte, kamen sie mit Büchern. Es war aber wirklich nett und überhaupt nicht aufdringlich. Sie haben dann auch gefragt, ob ich Lust hätte, dass sie mir etwas über dieses Fenster erzählen. Dann kam eine mit frischem Tee aus dem Garten... und ich meine, es war Sommer und wir waren nur fünf Leute in diesem Haus und es waren eben diese drei Leute da. Ich weiß nicht, ob das dort immer so läuft, aber es war so eine nette Erfahrung. Wir sind auch ein paar Stunden geblieben, weil es wie ein Ruheort war, an dem man voll viel lernen konnte, aber auch durch so eine Kleinigkeit wie zusammen Tee zu trinken, so schön zusammenkam und so etwas könnte ich mir vielleicht auch bei euch vorstellen. Also da können ja ganz unterschiedliche Formen von Begegnung stattfinden, aber dass jemand da ist, der einen begrüßt, das hat schon eine richtig große Kraft.

Senthuran Varatharajah:
Gibt es nicht auch das Teehaus?

Julia Lerch Zajączkowska:
Ja und es ist ja auch ein Ort, wo man jetzt eher einen Ausflug hin macht, als dass man da einfach so zufällig vorbeistolpert. Das sind so Kleinigkeiten, die total viel ausmachen, finde ich, eine Art von Vermittlung, die direkt ist und unaufdringlicher Luxus.

Jörg Albrecht.
Ja, das stimmt. Das ist aber eben auch eine Ressourcenfrage. Wir sind ja gerade an diesem Punkt, Konzepte zu erstellen, um zu sehen, wohin es gehen könnte und was mit unseren Ressourcen möglich ist.
Ich bin da wirklich auch sehr bei der Vorstellung von Begegnungsräumen. Als du gesprochen hast, fiel mir gerade wieder ein, dass wir seit letztem Jahr ja auch ein Spiel für junge Leute oder junges Publikum von 6 bis 99 auf der Burg haben, das David Kilinç und Cornelia Kupferschmid gemacht haben. Und zwar in dem Raum, wo dieses Kleid und auch die Kommode mit den Pariser Modejournalen von Droste ausgestellt sind. Dabei geht es auch um Geschlecht und dieses Vermittlungs-Spiel ist thematisch geordnet, was dem Museum auch sehr gut tut; dass es überhaupt in den einzelnen Räumen Themen gibt und nicht überall alles ist. Der Raum ist wirklich schön, weil man ihn innerhalb des Spiels auch betreten darf und im normalen Betrieb sonst nicht.
Das Spiel besteht aus einer Gegenüberstellung in einer Art Fragebogen, den dann die Gruppe sich gegenseitig vorliest. Die Gruppe muss dann ein Statement über das Verhältnis der Geschlechter entweder in die Zeit von Droste-Hülshoff oder in die heutige einordnen. Und es ist die Station, die am längsten dauert, weil dann alle ins Raten und Diskutieren kommen und sofort bist du in der Verhandlung dieser Fragen. Das ist nicht unbedingt groß kontrovers, aber schon immer so, dass alle ganz geschockt sind, wenn sie merken, dass sie wirklich nicht einordnen können, woher und wohin diese inhaltlichen Statements gehören könnten.
Das ist vielleicht auch nur so ein Anfang, anders als in den anderen Formaten, die wir hatten, können die Leute einfach auch mal etwas selber machen, ohne dass jemand dabei sein muss. Das wäre nochmal ein Anlass, die Räume auch mal als solche zu sehen, in denen Menschen überhaupt irgendwas machen dürfen und sie nicht nur Geld bezahlen, um durchzugehen.

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© Sabrina Richmann, http://www.sabrinarichmann.de, CC BY-SA 4.0

Shlomi moto Wagner:
Was du gesagt hast, Julia, über die nette Erfahrung im Corbusier-Museum, ist in meinem Verständnis, dass Privileg etwas mit Komfort zu tun hat. Wenn man das Geschlecht dekonstruiert und es nur diese Drives und diese Inspirationen geht… dann denke ich an ein Spa-Museum, wo es diesen maximalen Komfort gibt. Man bekommt dort Tee und Massagen und man kann über alles diskutieren. Dort hast du alles, was du brauchst und keinen Stress. (Alle lachen)

Jörg Albrecht:
Komfort? Privilegien für alle?

Shlomi moto Wagner:
Ja, Komfort und Privilegien für alle! Diese Idee hat mich vielleicht für meine eigenen Erzählungen, meine Performances inspiriert.

Jörg Albrecht:
In jedem Fall hat Droste zu Hülshoff ja auch sehr viel gepflegt in ihrem Leben. Also wirklich Kranke und teilweise bis in den Tod hinein. Verwandte, Bekannte, ihre Amme usw. Das könnte tatsächlich eine gute Verbindung sein. Ich würde sagen, dass wir nun eigentlich zum gemütlichen Teil übergehen können. Ich habe da mal eine Massage vorbereitet. (Gelächter)

Lizenz Text: Annette von Droste zu Hülshoff-Stiftung, Tee und Massagen. Ein Gespräch zu Museum und Privileg, CC BY-SA 4.0

Viten der beteiligten Künstler*innen

Annette von Droste-Hülshoff, geboren am 10. Januar 1797 auf Burg Hülshoff in Havixbeck bei Münster. Sie ist eine der bedeutendsten deutschen Dichter*innen und Komponist*innen des beginnenden 19. Jahrhunderts und schrieb Gedichte, Romane, Theatertexte und Kompositionen. Aufgewachsen im Kontext eines westfälischen Adelsgeschlechtes sind für sie die Bindung an und die Enge von Kirche, Familie und Staat stets Thema. In der zweiten Lebenshälfte bezog sie mit ihrer Mutter und Schwester das Haus Rüschhaus in Münster, wo unter anderem ihre Novelle Die Judenbuche entstand. Als literarisch schreibende Frau, als klug und entschlossen obendrein, war sie selbst sowie ihre Texte ihrer Zeit weit voraus. Droste starb am 24. Mai 1848 auf der Burg Meersburg am Bodensee.

Daniela Dröscher, Jahrgang 1977, wuchs in Rheinland-Pfalz auf: in der Region, in der  Edgar Reitz  seine Serie  Heimat ansiedelte.  Heute lebt sie in Berlin und schreibt Prosa, Essays  sowie  Theatertexte. Thema ihrer Arbeiten ist das Verhältnis von öffentlicher und privater Geschichte sowie die Überlagerungen von race, class & gender. Seit ihre m autobiographischen Text  Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft (Hoffmann & Campe 2018), dekonstruiert sie aktiv ihre internalisierten  westdeutschen Biedermeier-Phantasmen im Sinne einer »Critical Westdeutschness«.

Christiane Frohmann ist Autorin, Verlegerin und Kulturphilosophin. Sie entwickelt in Theorie und Praxis ein Konzept von plattformübergreifendem »Publishing als performatives Gesamtkunstwirken«. Im Internet lässt sie sich aktuell meist von den Präraffaelitischen Girls vertreten (@PGexplaining auf Twitter und Instagram). Die meisten der Texte und Medienkunstprojekte von Christiane Frohmann sind aus Gründen der Zugänglichkeit frei im Internet verfügbar.

Manuel Gogos ist freier Autor und Ausstellungsmacher, seine Arbeiten bewegen sich zwischen wissenschaftlicher Essayistik, Hörbildern und Bildsprachen. Nach seinem Studium der Philosophie, Germanistik und vergleichenden Religionswissenschaften in Bonn promovierte er über jüdische Diasporaliteratur.  Von 2002 bis 2005 war er im Forschungs- und Ausstellungsprojekt  Projekt Migration  der Kulturstiftung des Bundes tätig.  Seit 2005 firmiert er in seiner  Agentur für Geistige Gastarbeit  als freier Kurator und kuratorischer Berater. Gleichzeitig arbeitet Manuel Gogos als Literaturkritiker, Autor von Hörfunk-Features und als Filmemacher – zuletzt mit der Arte-Dokumentation  Unter Fremden. Auf der Reise zu Europas Neuen Rechten  (2017).

Fabian Raith lebt und arbeitet in Berlin. Er ist Performer (selten) und Medienkünstler (immer) und experimentiert mit immersiven Theaterformaten und narrativen Räumen. In letzter Zeit beschäftigt er sich mit dem Wandel der Arbeit und dem Einfluss dieses Wandels auf Zeit (viel zu viel) und Freizeit (viel zu wenig). Er arbeitete am Schauspielhaus Hamburg, studierte in Erfurt (Osten), Frankfurt (auch Osten) und Istanbul (noch weiter Osten). Er forschte zu Popmusik als Feld politischer Meinungsäußerung und studiert just in diesem Moment im Master Spiel && Objekt an der HfS Ernst Busch.

Gerhild Steinbuch, 1983 in Mödling (Österreich) geboren, studierte Szenisches Schreiben in Graz und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Berlin. Sie schreibt Texte für Sprech- und Musiktheater, Essays, Hörspiele und Prosa und arbeitet außerdem als freie Dramaturgin sowie als Übersetzerin aus dem Englischen. Sie arbeitet gerne im Kollektiv, so z. B. für das brut Wien mit Freundliche Mitte oder mit dem Autorinnenkollektiv Institut für chauvinistische Weiterbildung. Sie ist außerdem Gründungsmitglied von Nazis & Goldmund, einer Autor*innenallianz gegen die Europäische Rechte. Gerhild Steinbuch unterrichtete u.a. am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und ist gegenwärtig Professorin am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien.

Senthuran Varatharajah, geboren 1984 in Jaffna, Sri Lanka. Studium der Philosophie, evangelischen Theologie und der vergleichenden Religions- und Kulturwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg, der Humboldt-Universität zu Berlin und am King’s College London. 2016 Veröffentlichung des mehrfach ausgezeichneten Debütromans  Vor der Zunahme der Zeichen  im S. Fischer Verlag.

Shlomi moto Wagner ist Interdisziplinärer Performer und Sänger. Er wurde in Israel geboren und studierte an der Tel Aviv Music Academy und an der Manhattan School of Music in New York und erhielt den MA in Interdisciplinary Arts. Als Opernsänger war Shlomi Mitglied des Opernstudios der Israeli Opera und sang als Solist mit Orchestern weltweit. Seit seinem Umzug nach Berlin im Jahr 2012 arbeitet er mit verschiedenen Opern-Ensembles und experimentellen Theatermacher*innen, u.a. mit Philine Rinnert und Johannes Müller. Gründerin des House of Mazeltov, einer Drag-Performance-Gruppe, mit der er die performativen Grenzen von Stimme, Geschlecht, Tradition und Identität untersucht. 

Julia Lerch Zajączkowska interessiert sich vor allem dafür, die eingetretenen, institutionellen Pfade zu hinterfragen und neue Formate und Möglichkeitsräume für Kollaborationen zu schaffen. Zuletzt kuratierte sie einen Projektraum innerhalb des Ausstellungsprojektes Mobile Welten oder das Museum unserer transkulturellen Gegenwart am Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg. Anspruch der Sonderausstellung war es, ein neues Museumsmodell für die postmigrantische Gesellschaft exemplarisch zu entwickeln, das den überkommenen Kategorien und Weltsichten des 19. Jahrhunderts die Geschichte der globalen Verflechtung entgegenstellt.

Christiane Frohmann

Präraffaelitischen Girls

Die Sonderausstellung schließt an die Veranstaltungsreihe Das Biedermeier-Phantasma (2019) an, kuratiert von Jörg Albrecht und Manuel Gogos, deren Konzeption durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW gefördert wurde.

Die präraffaelitischen Girls sind der Veröffentlichung Präraffaelitische Girls erklären das Internet entnommen. Das © liegt bei Christiane Frohmann, redaktionelle Anfragen gerne an christianefrohmann@gmail.com richten.