Ulrich Gutmair über Uneindeutigkeit
Ulrich Gutmair ist dieses Mal bei DEAR READER zu Gast. Er schreibt seit 30 Jahren für Tagezeitungen und Magazine über Pop und Geschichte und ist Redakteur bei der taz. Schon mit seinem Sachbuch-Debüt Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende ist ihm eine Kultur- und Musikgeschichte gelungen, die weder nostalgisch noch abgeschlossen klang. Auch in seinem Buch Wir sind die Türken von morgen. Neue Welle, Neues Deutschland wieder im Tropen-Verlag veröffentlicht, lässt Gutmair sein Material, er hat sich jahrelang durch Fanzines, Lyrics und Diskurse der frühen 80er-Jahre gegraben und selbst viele Interviews gemacht, oft für sich sprechen. Klar wird, viele Themen, die uns heute beschäftigen, trieben auch schon vor 40 Jahren vor allem die Jugendlichen um. Dass unter ihnen viele Menschen mit Migrationsgeschichte waren, ist vielleicht auch deshalb kaum in die Popgeschichte eingegangen, weil die Jugendlichen es vorzogen, sich selbst neu zu erfinden, ihnen zugeschriebene Identitäten zurückwiesen oder mit ihnen spielten. »Das Modell dafür war Punk, und was dabei herauskam, war die Neue Welle, die bald zur Neuen Deutschen Welle wurde«, schreibt Gutmair.
In den Songtexten, die in seinem Buch ausführlich zitiert werden, wurden keine Geschichten mehr erzählt, sie waren eher einer Schlagzeilenrhetorik verpflichtet, wirkten künstlich, lakonisch, roh und provokant; sie zeichneten sich durch ihren radikalen Gegenwartsbezug und Humor aus. Vor allem aber spielten sie mit Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten.
Mascha Jacobs und Ulrich Gutmair sprechen über diesen Zugang zur Welt, über unauflösbare Widersprüche, Attitüden der Härte, strategische Affirmation und produktive Formen der Negation. Über DAF, die Querness des Punks, Fanzines, Collagen und feministische Punkbands. Darüber, wie sich die durch Punk inspirierte kurze Neue Welle gegen die »Verdrängung und Verkitschung der gewalttätigen Geschichte Deutschlands« wandte und sich satirisch auf die xenophoben Ängste bezog.
Mitgebracht hat Ulrich Gutmair einen Text von Klaus Abelmann Alles, was sie schon immer über Punk wissen wollten (But were Afraid to Ask), der 1980 in dem Fanzine Neon erschien und in Wir waren Helden für einen Tag. Aus deutschsprachigen Punk-Fanzines 1977-1981 abgedruckt wurde, das 1983 bei Rowohlt von Hollow Skai und Paul Ott herausgegeben wurde. Der zweite mitgebrachte Text ist Der destruktive Charakter von Walter Benjamin, den man in dessen bei Suhrkamp erschienen Gesammelten Schriften, Band IV, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser S. 396-398 oder bei textlog.de findet.
Wer Lust bekommt auf die Musik und Texte der Neuen Welle, dem sei die Playlist zum Buch auf Spoitify empfohlen:
https://open.spotify.com/playlist/1SkNFVyLvG6OISDKygiZ9q
Bei DEAR READER unterhält sich Mascha Jacobs einmal im Monat mit Autor*innen über die Bücher ihres Lebens. Über die Wege, auf denen sie zu ihnen finden, wie das Gelesene sie verändert und wie oder ob für sie Lesen und Schreiben zusammengehören.
DEAR READER von Mascha Jacobs koproduziert von Burg Hülshoff - Center for Literature (CfL) gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.
Schnitt: Mia Ender
Postproduktion: Nicki Frenking
Covergestaltung: Sarah von der Heide
Jingle: Walter P99 Arkestra